NACH DEM ENDE DER GESCHICHTE
Eröffnungsrede Prague Crossroads Festival
Tschechisches Nationaltheater
Prag, Tschechien, 6. November 2024
Liebe Freund:innen,
ich freue mich sehr, hier in Prag zu sein, um das Prague Crossroads Festival zu eröffnen, das, wie ich gehört habe, zu Ehren von Václav Havel gegründet wurde, einem der größten Dramatiker und Politiker, die Europa im letzten Jahrhundert gekannt hat. Es fühlt sich seltsam an, in Prag zu einem Zeitpunkt wie diesem zu sprechen: An dem Tag, an dem Donald Trump zum zweiten Mal zum amerikanischen Präsidenten gewählt wurde. Gleichzeitig feiern wir in diesem Monat den 35. Jahrestag der „Samtenen Revolution“, auch „Zarte Revolution“ genannt – und damit den Sturz der stalinistischen Diktatur in weiten Teilen Europas. Zwei Blicke in die Vergangenheit: eine gruselige Rückkehr auf der einen Seite, ein Moment historischer Hoffnung auf der anderen.
Bis vor kurzem war die Eröffnung eines Theaterfestivals in Europa ein rein formeller Akt. Man bedankte sich bei den Sponsor:innen und ratterte die üblichen Schlagworte herunter: Demokratie, Freiheit, Vielfalt, Europa – was auch immer. Als ich mich auf diese Rede vorbereitete, musste ich deshalb an Havel und die bürokratische Sprache denken, die er für seine absurden Theaterstücke erfand. Er nannte sie „Ptydepe“: eine sinnleere Floskel-Sprache, die von einer zentralen Bürokratie für ihre Angestellten entwickelt wurde, um sie damit zu beschäftigen, überhaupt nichts zu tun.
Wie Sie wissen, komme ich aus Österreich zu Ihnen: nicht aus Havels, sondern aus Hitlers Heimatland. Zum ersten Mal seit dem Ende des Nationalsozialismus haben wir seit zwei Wochen einen rechtsextremen Parlamentspräsidenten. Seine erste Amtshandlung war es, den ungarischen Präsidenten Viktor Orbán nach Wien einzuladen. Ein weiterer Demagoge – Kickl, der Vorsitzende unserer rechtsextremen Partei, der „Freiheitlichen Partei Österreichs“, die die Wahlen gewonnen hat – und Orbán haben ein Papier unterzeichnet, in dem sie „Frieden“ – das heißt Frieden mit Russland – und die Auflösung der Europäischen Union fordern. In diesem schönen Papier wird die Zusammenarbeit von Österreich und Ungarn als „Achse“ bezeichnet – ich muss Sie nicht daran erinnern, wer zuletzt ein politisches Bündnis in Europa als „Achse“ bezeichnet hat. Aber das überrascht nicht von einer Partei, die mehr oder weniger alles verbieten will, was nicht „österreichisch“ genug ist, einschließlich meines eigenen Festivals - und sich dennoch „Freiheitspartei“ nennt.
Was immer man zu dieser neofaschistischen Sprache sagen will: Es ist kein „Ptydepe“ – sondern eine sehr klare Sprache. Eine Sprache des Hasses, eine Sprache der Macht. Sie wollen keine sich kreuzenden Straßen (Crossroads), sie wollen parallele Straßen, sie wollen kein Europa, sie wollen Nationalstaaten. Manchmal denke ich, dass wir Liberalen in den letzten Jahrzehnten, wie Havel über die sozialistischen Bürokraten sagt, „damit beschäftigt waren, überhaupt nichts zu tun“. Vielleicht waren einige von Ihnen realistischer als ich: Aber könnte es sein, dass wir zu sicher waren, dass die Demokratie tatsächlich das „Ende der Geschichte“ ist, wie der amerikanische Philosoph Fukuyama kurz nach 1989 schrieb?
Aber so sieht das Ende der Geschichte wahrscheinlich tatsächlich aus: eine Rückkehr oder sogar eine Rache der Vergangenheit an der Gegenwart. Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben in Prag, in der Stadt, in der 1968 die Idee des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ entwickelt wurde. Sie wurde von russischen Panzern zerschlagen, aber noch 1989 hofften nicht wenige Menschen auf ein vereintes Europa, das weder sozialistisch noch kapitalistisch gewesen wäre, sondern das Beste aus beiden Systemen vereint hätte. Was wir dagegen bekamen, war die Vereinigung der alten sozialistischen und kapitalistischen Eliten – unter dem Banner des Nationalismus. Vor einigen Wochen sagte mir eine serbische Philosophin: „Als die Berliner Mauer fiel, wurde uns zu spät klar, dass sie auf uns, die Ex-Jugoslaw:innen, gefallen war.“ Aber ich denke, sie ist auf uns alle gefallen, auf alle Europäer:innen. Als Václav Havel vor 35 Jahren Präsident wurde – ich war damals 12 Jahre alt – schien es, als hätte sich der platonische Traum erfüllt: ein Philosoph an der Macht! Aber der Mann, der so viele Jahre im Gefängnis verbracht hatte, der zensiert worden war, der so viel gelitten hatte – auch er konnte den Aufstieg des Nationalismus nicht verhindern, zum Beispiel die Teilung der Tschechoslowakei.
Das berühmteste Zitat aus der griechischen Tragödie lautet: „Leide und lerne“, aus Aischylos' „Orestie“. Doch heute, da Nationalismus, Krieg, Zwietracht, Engstirnigkeit, Angst und Zensur in ganz Europa wieder auf dem Vormarsch sind, stellt sich die Frage: Was haben wir seit 1945 und 1989 gelernt? War der sogenannte europäische Traum nur jener Schlaf der Vernunft, der Ungeheuer gebiert? Ob 1945 oder 1989: Ich denke, dass wir nur dann, wenn wir die Vergangenheit versuchen zu verstehen und anzunehmen, die Zukunft zurückgewinnen können. Nicht mit leeren Worten, nicht mit schönen Reden, sondern in jeder Begegnung, in jeder künstlerischen Handlung, in jedem Festival und natürlich bei jeder Wahl. „Wir müssen klare Bilder für vage Ideen finden“, lautet ein berühmtes Zitat von Godard, und ich würde hinzufügen: Wir brauchen klare Taten, wir brauchen direkte Solidarität. Wir brauchen Solidarität mit all denen, die bereits Opfer des neuen Faschismus geworden sind.
Ich weiß, dass Aktivismus genauso leer sein kann wie Worte. Ich weiß, dass das Theater vor allem ein Ort des Zweifels und der Wahrheit ist, ein Ort, an dem wir unsere Fehler eingestehen, an dem wir lachen und weinen können – über uns selbst, unsere Widersprüche, unsere Fehler, unsere Illusionen. Aber das Theater ist auch ein Ort der Revolte, der radikalen moralischen Sensibilität. Jedes Theaterstück, wie melancholisch und absurd, traurig und komisch es auch sein mag, ist ein Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft, Verzweiflung und Hoffnung aufeinandertreffen. Oder mit den Worten eines anderen Tschechen, Milos Forman, der über Václav Havel sagte: „Wenn es einem Dramatiker gelingt, uns zum Lachen oder Weinen zu bringen, oder zu beidem, dann ist er ein Künstler. Wenn es einem Dramatiker aber gelingt, den Sturz einer Diktatur zu inszenieren, ohne dass eine einzige Kugel abgefeuert wird, dann ist das ein Wunder.“
Lassen Sie uns dieses Wunder gemeinsam wiederholen. Lassen Sie uns eine zweite Samtene Revolution beginnen. Europa, Demokratie, Freiheit, Vielfalt: Lassen Sie uns diesen Worten wieder eine Bedeutung geben. Denn sonst werden sie bald nichts weiter sein als Poesie aus der Vergangenheit.
Vielen Dank.
Milo Rau
Künstlerischer Leiter der Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
(c) Jan Hromadko