Über Grenzen und Grenzüberschreitungen
Laudatio auf das Jüdische Museum Hohenems (sowie auf Hanno Loewy)
Jüdische Museum Hohenems
Gehalten am 8. 11. 2024 von Milo Rau
Sehr geehrtes Publikum, sehr geehrtes Preiskomitee, liebe Christa, lieber Hanno,
seit einigen Wochen befinde ich mich auf der sogenannten „RESISTANCE NOW!“-Tour, eine Debattentour, die mich durch bisher zehn verschiedene Länder geführt hat. Ich komme aus Zürich zu Ihnen, vorher war ich in Prag, Wien, Stockholm, Belgrad, New York, Amsterdam, Taipei, Antwerpen und vielen anderen Städten. Um nach Hohenems zu gelangen, habe ich allein in den letzten 24 Stunden vier Grenzen gekreuzt: die tschechische, die österreichische, die deutsche und schließlich die Schweizer Grenze. Eine Orgie der Grenzüberschreitungen, wenn Sie so wollen.
Als ich Hanno Loewy vergangene Woche im Wiener Café Sperl traf, weil ich wissen wollte, durch welche Zufälle er in Hohenems gelandet ist, da erzählte er mir von einem Jahrhundert des Exils – und einem Leben der oft genauso zufällig oder zwangsläufig entdeckten Leidenschaften und Berufungen. Vom Medienwissenschaftler und Filmtheoretiker zum Gründer und Leiter des Fritz Bauer Instituts und schließlich nach Hohenems: Wer hätte das Hanno – ich persönlich muss bei diesem Namen immer an Hanno Buddenbrook, den sensibelsten aller Buddenbrooks denken – vorausgesagt? Und dahinter steht eine Familiengeschichte, die, wie alle jüdischen Familiengeschichten des 20. Jahrhunderts, aber auch der Jahrhunderte oder Jahrtausende davor, bestimmt ist durch Verfolgung und schließlich den Holocaust: von Deutschland nach Israel und zurück. Kurzum: Der Weg von Hanno Loewy nach Hohenems war eine Geschichte der Grenzüberschreitungen, auch zwischen den Wissenschaften und Medien.
Um ehrlich zu sein: Ich war heute zum ersten Mal in Hohenems, aber die Arbeit des Jüdischen Museums kannte ich schon lange. Der Name Hanno Loewy war mir, wie wohl Ihnen allen hier, ein Begriff. Aber etwas war mir immer, ohne mir jemals richtig bewusst zu werden, ein Rätsel: Warum Hohenems? Warum liegt das berühmteste jüdische Museum des deutschen Sprachraums – oder überhaupt eines der berühmtesten Museen Mitteleuropas – in einer kleinen Stadt, deren Name sonst – ich entschuldige mich für diese Einschätzung – eher selten genannt wird. Es gibt in Hohenems keinen berühmten Fußballklub, es wurde in Hohenems niemals auf einer Konferenz ein bedauernswertes Land aufgeteilt. Und es gibt auch keinen In-Cocktail, z.B. den „Hohenemsey“ - wobei ich natürlich vorschlage, einen solchen zu kreieren.
Aber ernsthaft: In Hohenems hat es ein Museum geschafft, einen Ort berühmt zu machen – was wohl einzigartig ist. Und zwar so berühmt, dass man, wenn zum Beispiel Hanno Loewy an ein Rednerpult tritt, die übliche Benennung nicht „Gründer des Fritz Bauer Instituts“ oder „berühmter Medienwissenschaftler“ lautet, sondern „Direktor des Jüdischen Museums Hohenems“. In einer Zeit, in der Museen und überhaupt Kulturinstitutionen in ganz Europa verkleinert und geschlossen werden, in der Erinnerungskultur, wenn sie nicht nationalen Triumphen huldigt oder immerhin einen politischen Diskursgewinn verspricht, als teures, nutzloses und eigentlich lächerliches humanistisches Hobby gilt, das man wegsparen kann – in einer solchen Zeit, die, um Hanno Loewy zu zitieren, „Eindeutigkeit spüren will“, ist das Museum Hohenems eine Metapher für ein Konzept der Mehrdeutigkeit, der Offenheit, des grenzenlosen und mehrdimensionalen Verstehens – einer Kunst und Erinnerungspolitik, wie sie kaum mehr praktiziert wird und ja auch (leider) kaum jemals praktiziert wurde.
Hanno persönlich habe ich vor ein paar Monaten in Wien kennengelernt. Ich hatte ihn eingeladen, an einem Projekt teilzunehmen, das wir die „Wiener Prozesse“ nannten: Prozesse gegen verschiedene Repräsentanten des Staates, der Parteien und der Kulturlandschaft. Hanno sagte in einem Fall um die Nahost-Debatte – konkret um das von der Polizei aufgelöste Wiener Pro-Palästina-Camp – aus. Auch hier zeigte sich seine Haltung, die jeder Eindeutigkeit misstraut: Statt sich von einer Seite vereinnahmen zu lassen, teilte er in beide Richtungen aus: Israels Politik genauso wie manche postkolonialen Positionen würden ethnischen Nationalismus befördern, und nicht jeder Unsinn sei schon „antisemitisch“. Ein anderer Fall drehte sich um die FPÖ, eine Partei, die dem Museum Hohenems ja immer wieder Ungemach bereitet hat. Unterdessen hat die FPÖ die österreichischen Wahlen gewonnen – mit einem Wahlprogramm, das den klassischen Nationalsozialismus bis in die Wortwahl hinein kopiert: vom „Volkskanzler“, der „Verfügungsgewalt über Raum und Volk“ und der „Rückführung“ von Migrant:innen ist da die Rede.
Und auch wenn sie Grenzen lieben, so ist doch auch die Politik der Rechtsradikalen grenzüberschreitend: Herr Rosenkranz, FPÖ-Mitglied, Angehöriger einer rechtsradikalen Burschenschaft, Herr Rosenkranz, der einen verurteilten Nazi-Juristen als Vorbild hat und tatsächlich vor zwei Wochen neuer österreichischer Parlamentspräsident geworden ist, lud als erste Amtshandlung den ungarischen Regierungschef Victor Orbán nach Wien ein, und zwar am gleichen Tag, an dem Hanno und ich im Café Sperl saßen. In ihrer sogenannten „Wiener Erklärung“ verlangten die beiden Politiker „Frieden“ – gemeint ist Frieden mit Russland –, die sukzessive Auflösung der Europäischen Union, eine radikale „Lösung“ der Migrationsfrage und das Ende „linker Erziehungsexperimente“. Die Zusammenarbeit von Österreich und Ungarn wird in der „Wiener Erklärung“ als „Achse“ bezeichnet. Ich muss Sie nicht daran erinnern, wer zuletzt ein politisches Bündnis in Europa als „Achse“ bezeichnet hat.
Aber die Arbeit der europäischen Rechtsradikalen ist auch in einem bildpolitischen und moralischen Sinn grenzüberschreitend. Sicherlich erinnern Sie sich an das Foto des Herrn Strache, ehemaliger Führer der FPÖ, wie er, mit dem Hütchen einer antisemitischen Burschenschaft auf dem Kopf, Yad Vashem besuchte, die Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem. Bildpolitisch ist dies die vielleicht radikalste moralische Grenzüberschreitung der jüngeren Geschichte, die aber natürlich seither relativiert wurde durch die Normalisierung antisemitischer und rassistischer Grenzüberschreitungen.
Als ich nach Hohenems und dann hierher, ins Rheintal fuhr, über vier Grenzen hinweg, fragte ich mich deshalb: Was bedeutet es, in einem Land, in dem Abgeordnete der stärksten Partei in der Wahlnacht SS-Lieder singen, in denen Zeilen wie „Gebt Gas, ihr Germanen, wir schaffen die Siebte Million“ vorkommen, ein jüdisches Museum zu leiten? Was bedeutet es, auf einem Kontinent Erinnerungspolitik zu betreiben, auf dem die radikale Rechte nicht nur dabei ist, die Regierungen bald der Hälfte der Länder zu übernehmen, sondern auch die Sprache und die Politik der Nazi-Mörder normalisiert wird, als hätte es den Holocaust nie gegeben? Und auf dem wir, die Intellektuellen, die Kulturschaffenden, das Bürgertum, nicht glauben wollen, was die Rechten vorhaben, obwohl sie es tagtäglich verkünden, ganz eindeutig, in völlig klaren Worten – weil es schlichtweg zu verrückt ist? Und schließlich: Wie kann unser Widerstand, der Widerstand der Zivilgesellschaft, der Widerstand eines Museums aussehen, konfrontiert mit einer erinnerungspolitischen Strategie, die Vergangenheit, wo sie nicht national zu gebrauchen ist, zum Verschwinden zu bringen – um die Zukunft zu kolonisieren mit einer Art grusligem Double dieser selben Vergangenheit?
Ich glaube, dass die Antwort des Jüdischen Museums Hohenems und Hanno Loewys lautet: radikale Mehrdeutigkeit. Das Gespräch, das ich mit ihm im Café Sperl hatte – auch das „Café der Spione“ genannt, da dort so viele Menschen aus allen Ländern ein- und ausgehen, dass sich das eine oder andere multikulturelle Meeting völlig verspielt, wie man im Theater sagt – dieses Gespräch drehte sich immer wieder, vielleicht sogar grundsätzlich um Mehrdeutigkeit. Oder in Hannos Worten, denn ich pflege als Regisseur Gespräche mitzuschreiben: „Wir versuchen, in jeder Ausstellung eine Frage zu stellen, auf die wir keine Antwort haben. Meine erste Frage ist deshalb immer: Stellt diese Ausstellung eine Frage ans Publikum, die alle angeht? Und ist es eine Frage, auf die wir keine Antwort wissen? Und wenn das der Fall ist, nur dann machen wir die Ausstellung.“
Ich muss Ihnen, die im Gegensatz zu mir schon oft in Hohenems waren, nicht erzählen, wie revolutionär – ich würde sagen: täglich revolutionärer, da seltener, gefährdeter – Ausstellungen waren und sind, die Titel tragen wie: „Jerusalem Al-Quds“ oder aktuell „Yalla. Arabisch-jüdische Berührungen“. Jede Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems war und ist eine Provokation, und zwar im Hinblick auf das, von dem man sich vorstellt, dass es zusammengehört oder eben nicht: Juden und Araber, Israeli und Palästinenser, gute und böse Menschen, Antisemiten und Juden, Fluchthelfer und Flüchtlinge, Grenzpolizisten und Gutmenschen – und hier im Grenzbereich eben auch ganz schlicht: Österreicher, Deutsche, Schweizer und Menschen aus über hundert Ländern, die hier leben und genauso viele gute wie schreckliche Gründe hatten, hierher zu kommen.
Denn vor allem – und das ist, denke ich, dem Ursprung des Jüdischen Museums Hohenems als Speicher jüdischer Lebens- und damit auch ihrer Exil- und Fluchterfahrungen geschuldet – vor allem basiert jede dieser Ausstellungen, wie übrigens auch der Radweg „Über die Grenze“, auf sehr konkreten und damit sehr verwirrenden Erfahrungen: auf Lebensgeschichten, die immer spezifisch sind, immer mehrdeutig und gerade deshalb die Geschichte von uns allen erzählen. Ich komme aus St.Gallen, das hier um die Ecke liegt, und als ich mich auf diese Rede vorbereitete, als ich im „Café der Spione“ mit Hanno zusammensaß und den Irrwegen seines Berufslebens und all der Menschen lauschte, die in den vergangenen Jahrhunderten in Hohenems landeten und von hier fliehen mussten, dachte ich – bitte entschuldigen Sie, aber das Sprechen über Biographisches ist hier ja Methode – an meine Familie.
Ihre Geschichte kommt natürlich nicht vor in den faszinierenden Hörstationen des Radwegs – dafür sind sie zu unspektakulär – aber auch sie stehen für Tausende von Menschen, für Tausende von Schweizern und Österreichern, die aus dem Grenzgebiet kommen. Ich fasse mich kurz: Die erste Frau meines Großvaters väterlicherseits war eine deutsche Jüdin, die es nach ihrer Migration aus Deutschland in die Schweiz vorzog, bereits in den mittleren Dreißiger-Jahren weiter nach Kanada zu emigrieren. Denn klugerweise nahm sie wirklich ernst, was die damaligen Rechtsradikalen, die Nazis verkündeten, zudem war mein Urgroßvater, so erzählt man es, ein übler Antisemit. Später waren die Kinder meiner jüdischen Großmutter, meine kanadischen Onkel, oft in der Schweiz zu Gast, weshalb die zweite Frau meines Großvaters Mais anpflanzte in ihrem Teufener Garten, denn Amerikaner und damit auch Kanadier würden nichts anderes essen als Mais, so dachte sie sich. Und wie wir an diesem Preis sehen, der politisch relativ unkorrekt „Goldigä Türgga“ heißt, galt das bis vor kurzem auch für die Rheintaler, gewissermaßen die Amerikaner der Ostschweiz.
Aber das ist nur die halbe Geschichte, denn es geht hier ja um Mehrdeutigkeit: Der Onkel meiner Großmutter mütterlicherseits hieß Rothmund. Ja, Sie haben richtig gehört, es war der berüchtigte Heinrich Rothmund, Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei in den 30ern und 40ern, verschrien als Erfinder des „J“-Stempels, des sogenannten Juden-Stempels, Vorgesetzter von Paul Grüninger, dem Grenzpolizisten, der Hunderten von Juden das Leben rettete. Soviel in aller Kürze zu meiner, einer typischen, politisch ansonsten unauffälligen Ostschweizer Familie. Als mich also Hanno fragte, ob ich heute ein paar Worte sprechen will, hier, im Rheintal, in einer der geschichtlich interessantesten Grenzregionen dieses seltsamen, düsteren, strahlenden Kontinents, den wir Europa nennen – da dachte ich: Wie könnte ich Nein sagen?
Denn die Geschichte, die das Jüdische Museum erzählt, ist auch die Geschichte meiner Familie. Und vermutlich gilt das für die meisten oder gar alle von Ihnen. Womit ich zum Abschluss komme, zu einer Frage, die wohl zentral ist in den Museumswissenschaften: Ab wann wird aus einer Lebensgeschichte Geschichte (mit großem G)? Denn Museen sind Orte, an denen Fragen gestellt, aber auch, ob man will oder nicht, Antworten gegeben werden. Im Grunde verhält es sich wie mit den berühmten Ready-Mades von Marcel Duchamp: Wird ein Gegenstand in ein Kunst-Museum gehängt, dann ist er Kunst. Und genauso wird alles, was in ein Historisches Museum gelangt, Geschichte – und damit Erinnerung, Wahrheit, Fakt. Wie Sie wissen, die Schweizer genauso wie die Österreicher, wollte nach dem Krieg plötzlich jeder ein Paul Grüninger, ein Fluchthelfer, ein Widerstandskämpfer gewesen sein, am meisten natürlich die überzeugten Nazis – und viele waren es auch, aber wohl nicht aus Überzeugung, sondern weil sie sich an den Flüchtenden ihr Taschengeld verdient haben.
Und schließlich – auch das kann man von Hanno Loewy lernen – hieß die Ankunft in der Schweiz nicht Rettung, wie wir gern denken. Sondern der Beginn einer oft jahrzehntelangen behördlichen Überwachung und Entwürdigung – etwas, das sich, wie wir alle wissen, im Migrationswesen bis heute nicht geändert hat. Die Frage ist deshalb: Wer sind wir, die wir hier anwesend sind? Gehören wir zum Stamm der Täter oder der Opfer, sind wir Überlebende oder Profiteure, Zyniker oder Humanisten? Der Zufall wollte es, dass die Region hier, meine Heimat, zu einem realpolitischen, aber auch symbolischen, einem Tat- aber auch Erinnerungsort des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte wurde: des Holocausts. Hier wurden Menschen abgewiesen, in den Tod geschickt, andere fanden Aufnahme in unseren Städten und Dörfern. Einige kooperierten, wie mein Großonkel, andere gingen ins Exil, wie meine Großmutter. Hanno Loewy hat in einem seiner vortrefflichen Interviews von etwas gesprochen, das er „das Bedürfnis, Eindeutigkeit zu spüren“ genannt hat: Eindeutigkeit in der Schuldfrage. Eindeutigkeit bei der Frage, auf welcher Seite man steht oder zu stehen hat. Und genau das stellt ein Museum, das sich zu Recht historisch nennt, in Frage.
Ich könnte hier noch viele andere Dinge erzählen, die mir Hanno Loewy im Café Sperl mitgeteilt und die ich bei meinen Recherchen zum Jüdischen Museum Hohenems erfahren habe. Ich habe, und ich übertreibe nicht, aus dem Gespräch mit Hanno, aus seinen Interviews und den genannten Ausstellungen mehr gelernt als aus 100 Mediendebatten und Meinungsartikeln. Und zwar nicht, weil aus unerfindlichen Gründen Hanno mehr weiß, klüger ist oder schärfer denkt als wir andern – das vermutlich auch, das war ja schon bei Thomas Manns Hanno Buddenbrook so. Vor allem aber, weil er Komplexität methodisch zulässt, Grenzen nicht schließen, sondern sie öffnen will – und vor allem verstehen, wie wir alle von ihnen geformt sind. Weil er Mehrdeutigkeit zulässt, weil er grenzüberschreitend denkt, kuratiert und lebt.
Ich glaube deshalb, wir feiern hier heute das, was man eine demokratische Museumswissenschaft nennen könnte: multiperspektivisch, kämpferisch, irritierend, und vor allem eines: extrem genau, auch wenn die Genauigkeit nicht immer das hergibt, was uns gefällt. Ich bin stolz, dass ich hier sprechen darf und dass dieses Museum diesen Preis bekommt, den „Goldigä Türggä“: eine Pflanze, die auch ihre Fluchterfahrung hat, die in die Schweiz emigriert ist. Oder vielmehr hierher entführt wurde, wie einst die phönizische Prinzessin Europa von Zeus entführt wurde, zu unser aller Vorteil. Dieser Preis ist ein wunderbares und mutiges Zeichen in einer Zeit, die nach Eindeutigkeit, Reinheit und Ausschluss verlangt.
Vielen Dank für Ihre Geduld. Und meine allergrößten Komplimente an das Jüdische Museum Hohenems, an das Team des Museums, an alle Beteiligten, Kuratorinnen und natürlich an die Jury des „Goldigä Türggä“.