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Die Kunst, viele zu bleiben

Als ich 8 war, kam ein neuer Asterix-Film ins Kino. Neben mir saß ein Mädchen, das ihn schon gesehen hatte, und unablässig flüsterte sie mir ins Ohr, was als nächstes geschehen würde. Kennen Sie das Problem? Es war supernervig. Es gibt Leute, die können schweigen wie ein Grab. Und dann gibt es all die anderen, die mit Mehr-Wissen einfach nicht umgehen können. Das Mädchen gehörte zur zweiten Gruppe. Ich auch. Ich bin ein Mensch gewordener Spoiler.

Die Kunst viele zu bleiben, lautet der Titel des Films, den wir gleich gemeinsam anschauen werden. Ich hatte das Privileg, ihn am Wochenende schon zu sehen, per Vimeo-Link. Unter allergrößter Willensanstrengung werde ich versuchen, nicht zu viel zu verraten. Der Film erinnert, soviel sei nur gesagt, an eines jener bloß gedanklich verbundenen Reise-Bücher, an denen die deutsche Literatur so reich ist. In einer Wilhelm-Meister- oder Faserland-Dramaturgie reisen also zwei Personen – Hauke Heumann und Tina Pfurr – durch Deutschland, das neblig, weit, seltsam verlassen erscheint. Sie reisen von Festival zu Festival, vom Westen in den Osten und wieder zurück. Es ist ein friedlicher, etwas melancholischer, natürlich auch philosophischer Film, denn es geht um eine Lebensweise: Es geht um die Kunst, viele zu sein und zu bleiben. „Nicht ein fertiges Narrativ bestimmt die Handlung, sondern das Zuhören“, heißt es aus dem Off.

Je länger aber der Film andauert, desto mehr erinnert er an ein anderes Buch: Lenz. Georg Büchners Wanderer ist eine Figur, die kraft ihrer Hellsichtigkeit aus dem Deutschland der Gebrüder Grimm herausragt in unsere Zeit: aus dem Idealismus in den Realismus, aus der romantischen Ironie in die eiskalten Wasser des Kapitalismus, wie Karl Marx nur 9 Jahre später in seinem Manifest der Kommunistischen Partei schreiben sollte. „Es war ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte“, heißt es in Büchners Novelle, während Marx, wie wir wissen, die Welt oder immerhin die Philosophie vom Kopf auf die Füße stellen wollte. Aber oftmals sind die Idealisten die wahren Realisten: weil sie die Wirklichkeit an ihrer Sehnsucht messen, weil vielleicht die Wirklichkeit selbst Sehnsüchte hat, denke ich. Lenz wandert so, während er sich durch ihre Peripherien bewegt, ins Zentrum der Welt, der Wirklichkeit, in ihr brennendes Herz. Er ist kein Wahnsinniger, sondern ein metaphysisch Entwurzelter.

Ähnlich ergeht es den beiden Reisenden in dem Film, den wir gleich anschauen werden: Sie sind Idealist:innen in einer Welt, die dabei ist, einem neuen Realismus anheimzufallen. Sie sind konfrontiert mit einem Deutschland, in dem die Offene Gesellschaft, die sogenannten liberalen Werte insgesamt wie traurige Ruinen wortwörtlich in der Landschaft herumstehen – Sie werden es gleich sehen. Ich weiß nicht, ob das beabsichtigt ist oder einfach ein zufälliges Stilmittel: Die Besuche auf Theaterfestivals wirken in dem Film auf mich ein wenig wie Treffen von Geheimzirkeln, mit kleinen Gruppen Ausharrender, quasi die Zusammenkünfte der Swing Kids des 21. Jahrhunderts. Die Gespräche verströmen Wut, aber auch Ratlosigkeit. Diese beiden Lenze, Heumann und Pfurr – laufen durch ein Land, das scheinbar grundlos und gleichsam unverbunden mit dem eigenen historischen Schicksal in den Abgrund schlittert. Sie sind konfrontiert mit einer Art zweitem Faschismus, der weder Massenarbeitslosigkeit, noch einen verlorenen Krieg, noch Rassenwahn, noch Hyper-Inflation braucht, um an die Macht zu kommen. Mit einem Land, einer Gegenwart, in der das vage Gefühl einer „Mehrheit“, im „herrschenden Diskurs nicht vorzukommen“, ausreicht, um die Demokratie abzulehnen – wie ein Soziologe an einer Stelle des Films sagt.

Um ehrlich zu sein: Ich hätte den Film, den wir gleich sehen werden und der die Versöhnung, die Diversität und die Menschlichkeit feiert, in dem nur gebildete, kluge, sympathische, witzige und nachdenkliche, kurzum: talentierte Menschen zu Wort kommen, bis vor wenigen Jahren für humanistischen Kitsch gehalten. Aus soziologischer Sicht zeigt der Film Die Kunst, viele zu bleiben uns alle, die wir hier sitzen, die Lenze des 21. Jahrhunderts. Gleichsam über Nacht entwurzelt versuchen wir, damit umzugehen, dass unsere Überzeugungen – und letztlich wir selbst: die Demokratie, die liberale Gesellschaft – gerade in halb Europa auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen werden. Eine Gesellschaft, die, wie es in Büchners Lenz heißt, „alles tut, wie es die anderen tun“, wie man es immer getan hat – man geht wählen, man macht Kunst, man debattiert, hält Reden: Es ist aber, wie Büchner schreibt, „eine schreckliche Leere“ in alldem, nicht wahr, als würde man Walzer tanzen auf einem untergehenden Schiff.

Ja: Es ist meine Klasse, es ist meine Altersgruppe, es sind meine Überzeugungen, von denen der Film handelt – und von ihrem geisterhaften Verschwinden. Ich wurde erzogen mit der Idee, dass die Geschichte, wenn nicht planvoll, so doch mit einer gewissen Sanftheit auf das Wohl aller, oder der allermeisten, zusteuern würde. Meine Mutter war das Kind italienischer Einwanderer, typische Wirtschaftsflüchtlinge, mein Muttername lautet Milo Larese, mit achtzehn aber nahm ich den Namen meines ersten Vaters an, Rau, das klang ernsthafter, und dann blieb ich dabei. Meine Großmutter väterlicherseits hinwiederum war eine Jüdin, ausgewandert aus Deutschland in den mittleren 30ern, aus weiser Voraussicht. Meine beiden Eltern waren linksextrem, im Grund waren sie Anarchisten, und mein Vorname, Milo, ist der Name eines serbischen Freundes meiner Eltern, der wie meine Eltern in den 70ern und 80ern vom „Dritten Weg“ träumte.

Kurzum, meine Eltern waren typische Vertreter ihrer Generation: Sie kämpften gegen Atomkraft und Kapitalismus und Stalinismus, für Minderheitenrechte und für den Frieden. Meine ganze Kindheit verbrachte ich auf Demonstrationen, wir wechselten permanent den Wohnort, da die Polizei dem zweiten Mann meiner Mutter hinterher war, der einer Splittergruppe namens „Revolutionäre Marxistische Liga“ angehörte – denn schon damals verfolgte die Polizei nicht die rechten Realisten, sondern die linken Idealisten. Man scherzt heute über die Generation meiner Eltern, die sogenannten Boomer, aber in Wahrheit waren sie eine heroische Generation: Meine Mutter hatte drei Jahre lang kein Stimm- oder Wahlrecht, weil es in der Schweiz erst 1971 eingeführt wurde. Wie Millionen anderer Frauen und Männer setzte sie sich mit ihrem Körper und ihrem Ruf für ihre Rechte ein. Heute sind die Wahlunterlagen, die der Schweizer Staat meiner Mutter in vier Sprachen zuschickt, gegendert. Als ich ein Kind war, hieß es in der Schule, wenn wir zu laut waren: das ist keine Judenschule. Noch in den 90ern, da war ich ein Teenager, gab es in meiner Nachbarschaft einen angesehenen Intellektuellen, der die Ermordung der europäischen Juden als Geschichtslüge betrachtete.

Heute stehen die Leugnung des Holocaust und überhaupt rassistische Äußerungen in der Schweiz unter Strafe, als Verfassungsgrundsatz. Alle Atomkraftwerke in der Schweiz wurden vom Netz genommen, das Bankgeheimnis gelüftet, beinahe die Armee abgeschafft. In Deutschland sieht es – ich wohne ja seit 20 Jahren hier - ähnlich aus. All das hat die Generation unserer Eltern erreicht. Wir stehen auf den Schultern von Riesen: wir, die Generation X oder die Millennials. Wir, die Goldene Generation. Mein italienischer Großvater hat nicht studiert, meine Mutter hat nicht studiert, ich aber konnte studieren. Wenn auch völlig erfolglos: dass ich studierte, stand außer Frage, und ich weiß nicht, ob wir uns hier dieser Privilegien bewusst sind. Im Alter von 12 Jahren bestieg ich zum ersten Mal einen Bus aus meinem Vorort und fuhr ins Theater. Ich fühlte mich unwohl in dem Gebäude, fehl am Platz, und bis heute hat sich mein Körper an Theater- und Opernhäuser nicht gewöhnen können. Und doch arbeite ich in ihnen, ganz selbstverständlich, und doch habe ich auf dieser Bühne drei Produktionen gezeigt und auch auf anderen Bühnen in Berlin, und doch leite ich heute ein Festival. Wie war das möglich? Vor allem aber: Wie war es möglich, dass all das, all diese heroischen Eroberungen nicht gefolgt wurden von der Vollendung des Auftrags der Aufklärung, dass all unsere Kämpfe und Debatten, die Identitätspolitik, die Auseinandersetzungen über race und gender, die unsere Generation führte, nicht die Apotheose, sondern – so scheint es immerhin aktuell und so vermittelt es der Film, den wir gleich sehen werden – nur das letzte Flackern der Fackel sind, die unsere Eltern von den 60ern bis zur Jahrtausendwende getragen haben? Wie konnte es geschehen, dass das „glamouröse Herumstreunen an seltsamen Orten, wo einen absolut keiner kennt“ – so heißt es in Faserland – etwas Verschwindendes, Bedrohtes, Minoritäres, fast Gefährliches geworden ist, wie wir in dem Film, den wir gleich sehen werden, lernen? Wie ist aus Theater eine Kulturpraktik der Verrückten und Woken geworden, wie wurden die Vielen so überholt, vereinzelt, entmutigt, zerstreut?

Wir leben in verwirrenden Zeiten. Ich komme heute aus Österreich zu euch, dessen größte Partei, die FPÖ, mein Festival verbieten lassen will. Und zwar nicht deshalb, weil es sich finanziell nicht auszahlt oder weil gekürzt werden müsste, das wäre ein geradezu altertümlich neoliberales Argument – sondern weil die Wiener Festwochen ein „wokes“ Event seien, als Kunst getarnter Aktivismus. Freie Kunst muss sich rechnen, hat man mich in den Nullerjahren gelehrt. Heute heißt es: Freie Kunst gehört auf den Abfallhaufen der Geschichte, wie der Stummfilm oder der gregorianische Gesang. Womit sich die Frage stellt: In welche Richtung steuern wir, wenn die Vorstellung – und Lebenswirklichkeit – der Generation meiner Eltern und auch meiner, nämlich dass es in einer Demokratie um Maximierung von Teilhabe und Verteilungsgerechtigkeit geht, falsch, irrig, elitär war? Was ist aus einer Zeit – unserer – zu lernen, in der ein Angehöriger der größten österreichischen Partei, der FPÖ, ein Mann namens H. C. Strache, morgens das SS-Lied „Wir schaffen die Siebte Million“ singt und nachmittags die Gedenkstätte Yad Vashem besucht, wo der Toten des Holocaust gedacht wird? Was lernen wir aus einer Zeit, in der der Präsident der größten Demokratie der Welt dazu aufruft, den Gaza-Streifen ethnisch zu reinigen, die Ukraine an Russland zu verraten und Grönland zu annektieren? Was ist das für eine Gegenwart, für ein Realismus, in der die Antwort auf all das lautet, von Zizek bis Merz, von Münkler bis Macron: Europa muss sich endlich eine Armee anschaffen, Deutschland muss endlich Atommacht werden?

Um es mit einem Gedicht von W. B. Yeats zu sagen: Die Mitte hält nicht mehr. Als ich Teenager war, in den 90ern, als Faserland geschrieben wurde, schien die Mitte so träge, so unerschütterlich, dass die Kunst, Viele zu sein letztlich darin bestand, diese Mitte herauszufordern, zu erschüttern, zu dekonstruieren. Die „Radikale Mitte“, das war ein Scherzterminus – denn die Mitte reichte von ganz links bis ganz rechts, sie war gefräßig, wie Kohl verleibte sie sich alles ein und wurde immer dicker. Die Geschichte des Fonds Darstellende Künste ist die Geschichte von Menschen wie mir – Kindern von Einwanderern oder kleinen Angestellten oder Arbeitern, Menschen aus Vororten, aus denen eine Art postmodernes, unzynisches, vermutlich naives Neo-Bürgertum erschaffen wurde im demokratischen Wohlfahrtsstaat. Der Weg von den Suburbs ins Stadttheater, von der Off-Off-Szene an die Festivals und in die Förderprogramme, von der Peripherie ins Zentrum war strukturell nie kürzer, ja fast zwingender als in den letzten 30 oder 40 Jahren. Die Mitte gierte nach uns, nach unserem Dissens, unserer Diversität, unserer Seltsamkeit, unserer Revolte – nach uns, diesen Menschen, die auf dem Kopf gingen. Gerade noch spielte Pollesch Heidi Hoh in Luzern, und schon war er beim Theatertreffen. Das gleiche bei Rimini Protokoll, das gleiche natürlich bei Schlingensief, bei She She Pop, bei Linah Majdalanie und Rabih Mroué undsoweiter. Diese Menschen waren und sind meine Onkel und Tanten, meine großen Cousins und älteren Geschwister. Sie erfanden Parteien, Parlamente, spielten Pingpong auf der Bühne, vermischten Wirklichkeit und Fiktion, Vortrag und Performance, dekonstruierten die Klassiker, die Nation, das Geschlecht, die Rasse, das Alter, sogar den Tod und den Faschismus. Wo sie hinkamen, siegten sie, glänzend, entspannt – und sahen dabei cool aus, wie Loser. Sie waren das eingelöste Versprechen der Postmoderne, eingelöst oder immerhin unterstützt vom Fonds Darstellende Künste.

Wann war Schluss damit? Wann fanden wir uns auf einmal an der Peripherie wieder? Wann wurde die Kunst zum „woken“ Blödsinn erklärt, wann wurde ihr Idealismus wieder auf die Biennalen, die Festivals und letztlich die Reservate zurückgedrängt, aus denen sie ja ausgebrochen war in den 60ern, um die Welt zu verändern? Ich will hier keine strukturelle Debatte entfachen – die Geschichte des Neoliberalismus, der Kürzungen undsoweiter kennt ihr hier in Berlin genauso gut oder besser als ich sie in Österreich, in Belgien oder der Schweiz erlebt habe. Ich will zu einer Frage kommen, die sich mir gestellt hat, als ich den Film sah, den ich hier so gnadenlos spoilere. Meine Frage lautet, ganz einfach: Wie können wir Viele bleiben? Wie entgehen wir der Vereinzelung? Was wäre ein angemessener Widerstand, gegen diese neue Mitte, die plötzlich alles loswerden will, was von den Peripherien stammt? Wie können wir weiterhin elegant und entspannt durch Deutschland und Europa geistern, wie verhindern wir, dass aus unserem Lenz-Haften, gemeinsamen Herumstolpern nicht ein kompetitives Reinhold-Messner-Wandern wird? Wie halten wir die Kunst, das Theater am Leben?

In einem berühmten Interview nach dem Krieg, das vermutlich die meisten hier kennen, sagte Hannah Arendt: Dass uns die Nazis hassten, war uns klar. Was uns vernichtete, war nicht der Hass unserer Feinde, sondern das Schweigen unserer Freunde. Als vergangenen August der Direktor des Slowakischen Nationaltheaters, Matej Drlicka von der rechtsnationalistischen Kulturministerin entlassen wurde – in Bratislava, gerade einmal eine Autostunde von Wien entfernt –, war das Schweigen in der westeuropäischen Kulturszene ohrenbetäubend. Slowakei, Osteuropa, das war ein anderes Wort für: das geht uns nichts an. What happens in Bratislava, stays in Bratislava. So beginnt die Zerstörung der Demokratie: mit ihrer Zersplitterung, mit einer Art negativen Identitätspolitik, mit dem Schweigen ihrer Freunde. So wie man gemeinsam viele sein kann, so kann man auch, wie man aus Melodramen weiß, gemeinsam einsam sein. Der Grund, warum wir unsere Resistance Now Kampagne gründeten, im vergangenen Jahr durch über 20 Länder reisten, 200 Organisationen aus 50 Ländern miteinander verknüpften und heute mit der EU an einem neuen Gesetz zum Schutz der Kunstfreiheit in den einzelnen Ländern arbeiten, der Grund ist einfach: Jede Zerstörung, die wir zulassen, weil sie nicht uns selbst betrifft, ist ein Teil unserer eigenen Zerstörung. Denn eine andere Sache hat uns Hannah Arendt auch gelehrt: Egal, wie viele Gewaltmittel der Staat hat – am Ende liegt die Macht immer bei der Bevölkerung, der Zivilgesellschaft, und sie hat noch jeden Autokraten gestürzt. In der Slowakei bildete sich eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die so stark ist, dass sie die Regierung wohl bald stürzen wird. Und in Serbien findet in diesem Augenblick der größte zivilgesellschaftliche Aufstand statt, den Europa seit 1989 gesehen hat. Kurzum: Es ist nicht zu spät, keineswegs. Der Kampf hat gerade erst begonnen.

Die Rechte liebt es, zu drohen – sie liebt den Triumph vor dem Sieg. Erdogan droht damit, Rojava zu erobern. Putin droht mit dem Einsatz von Atomwaffen. Trump droht damit, die Ukraine an Russland abzutreten und den Gaza-Streifen in ein zweites Dubai zu verwandeln. Alice Weidel hat keine Atomwaffen, noch nicht, deshalb droht sie damit, die Grenzen „dicht zu machen“ und „alle Windräder nieder zu reißen“. Lustigerweise treffen sie sich alle in einer Drohung, nämlich – um nochmal Weidel zu zitieren: alle „woken Professoren rauszuschmeißen.“ Für ihren Wahlkampf hatte die FPÖ eine einzige Forderung: „woken Events“ wie dem Eurovision Song Contest und den Wiener Festwochen die Förderung zu kürzen. Aber wie gesagt: Es ist nicht zu spät. Als die Perser, die Putins und Trumps der Antike, die griechischen Stadtstaaten angriffen, drohten sie. Sie sagten: Ergebt euch besser gleich. Denn wenn wir euch besiegen, werden wir euch die Häuser und Weinberge anzünden, wir werden euch töten und versklaven. Die Griechen antworteten mit einem einzigen Wort: wenn. Insofern: Verzweiflung ist okay, Wut auch. Melancholie oder gar Depression sollten wir uns aber für den Moment aufheben, wenn es tatsächlich zu spät ist.

Wie gesagt: Nichts gegen Melancholie, ich will hier nicht einer toxischen Positivität das Wort reden. Besonders gefallen haben mir an dem Film seine Langsamkeit, seine Behutsamkeit. Die Zeit, die er sich nimmt, obwohl uns eigentlich keine Zeit mehr bleibt. Drei Begriffe habe ich in dem Film aufgeschnappt: Großzügigkeit. Gastfreundschaft. Liebe. An einer Stelle treten, gleich hintereinander, zwei der in der aktuellen Nahost-Debatte radikalsten Positionen auf – die libanesischen Künster:innen Linah Majdalanie und Rabih Mroué auf der einen, der Bundesbeauftragte für jüdisches Leben, Felix Klein, auf der anderen. Irgendwie schafft es der Film, beiden zuzuhören. Ich persönlich würde vieles, eigentlich fast alles, was Felix Klein getan oder gesagt hat, befragen – angefangen mit dem Canceln des südafrikanischen Philosophen Achille Mbembe kurz vor Covid. Und trotzdem: Ich bin seltsam dankbar, dass er in dem Film vorkommt. Was ich also meine und was der Film meint mit Gastfreundschaft, Großzügigkeit, Liebe, ist keine Hippie-Liebe, sondern eine tätige und eine kämpferische Liebe. Ein Lieben, das, wie bell hooks sagt, kein Substantiv, sondern ein Verb ist. Keine Großzügigkeit, die ein „Danke“ erwartet, so wie Trump von Selenski. Keine Deal-Großzügigkeit also, sondern eine Großzügigkeit aus reiner Freude an der Existenz und am Handlugsspielraum des Anderen: an unserer Vielheit.

Sind wir lächerlich? Sind wir Idealist:innen? Stehen wir auf verlorenem Posten? Ich denke: Ja. Denn wir verteidigen die Wahrheit und die Hoffnungen der Minderheiten gegen die Mehrheit. Wir verteidigen das, was sich nicht lohnt, gegen das, was sich auszahlt. Aber wir sind auch Realist:innen, vielleicht sind wir die wahren Realist:innen: Denn was wir verteidigen, wir alle hier, ist die Vielheit des Lebendigen gegen die Einheit, die Monotonie des Todes.

Womit wir zum Ende kommen. Denn in dem Film, den wir uns nachher anschauen, irgendwie im letzten Drittel singt Hauke Heumann ein Lied. Es ist ein schönes, trauriges Lied. Eine Zeile hat mich besonders berührt: Privatbesitz ist Trauer, und die Trauer geht nicht weg. Wir kämpfen hier, glaube ich, wir kämpfen mit unserer Kunst, unserem Theater, unseren Festivals für eine Welt, die uns allen und niemandem gehört. Wir kämpfen für den Sieg des Moments über die Dauer, der Vielheit über die Einheit. Eine meiner Lieblingsautorinnen, meine Freundin Mely Kiyak schreibt in einem ihrer Texte, die ich in meinem Herzen abgespeichert habe: Wenn wir sterben, erinnern sich einige Menschen an uns, weil sie uns lieben. Und dann sterben diese Menschen auch. Kurzum: der Tod ist sicher.

Aber solange wir leben, solange wir hier beieinander sind, solange wir zusammen sitzen und zusammen arbeiten und zusammen atmen, sollten wir so tun, als gebe es den Tod nicht – die Trauer nicht, den Privatbesitz nicht. Wir sollten sie nicht leugnen, aber überwinden, gemeinsam. Wir sollten nicht vergessen, und das sage ich Ihnen als unbelehrbarer Linker, als das Kind italienischer und jüdischer Immigrant:innen, der den kitschigen Namen eines kleinbürgerlichen serbischen, unterdessen über 70jährigen Intellektuellen trägt, der zufällig ein Freund meiner Eltern war: Dieses System, in dem wir leben, der sogenannte Kapitalismus – er wird uns immer wieder mit der Traurigkeit konfrontieren, von der Hauke Heumann singt. Er wird uns immer wieder Faschismus servieren als unser letztes Abendmahl. Er wird uns immer wieder die Rhetorik des Deals und des Ausschlusses, des Todes und der Unterwerfung, der Verlierer und der Gewinner bereithalten: jener kapitalistische Realismus, an der Lenz, an der jede humanistische Kunst, behaupte ich, zugrunde geht.


„Nicht ein fertiges Narrativ bestimmen die Handlung, sondern das Zuhören“, heißt es in dem Film, den wir gleich anschauen werden. Das würde, in jeder anderen Zeit als unserer, cheesy klingen, nicht wahr? Kitschig, verlogen, blind gegenüber struktureller Gewalt. Stellen Sie sich so einen Satz in Faserland vor, in den 90ern, in den Nullern. Warum klingt dieser Satz heute und hier richtig? Ich glaube, meine lieben Freund:innen, wir befinden uns an einem magischen Moment der Geschichte. Ich glaube, dass in diesem Frühjahr Widerstand und Liebe, Idealismus und Realismus, Zuhören und Kritik, Aufstand und Müdigkeit, Langsamkeit und Panik sich nicht widersprechen. Ich glaube, wir sollten für eine Welt kämpfen, in der sie sich nicht mehr und nie wieder widersprechen. Und ich denke, das ist der ultimative Spoiler, denn ich bin mir völlig sicher: Diesen Kampf werden wir am Ende gewinnen.

Aber noch sind wir nicht soweit. Ich will deshalb, quasi als Wegzehrung, mit ein paar Strophen Viele sind wir von Pablo Neruda enden. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber als Sohn zweier romantischer Boomer muss ich immer an Neruda denken, wenn ich von den Vielen höre.

Neruda schreibt also in Viele sind wir:

Euch liebe ich, Idealismus und Realismus,
wie Wasser und Stein,
ihr seid
Teile der Welt,
Licht und Wurzel vom Baum des Lebens.

Schließt mir nicht die Augen,
selbst nicht nach dem Tode,
ich brauche sie noch, um zu lernen,
um zu betrachten, zu begreifen.

Man sollte es zulassen, daß die Schönheit
mit den unmöglichsten Galanen tanzt,
bei Tag und bei Nacht:
nötigen wir sie nicht, die Pille der Wahrheit
einzunehmen als eine Medizin.

Säusle! befehl ich
dem reinen Wald,
auf daß er heimlich sein Geheimnis nenne,
und zur Wahrheit: Halte dich nicht so zurück,
bis du zur Lüge dich verhärtest.

Ich bin nicht Chef von irgendwas, ich dirigiere nicht,
und somit häufe ich an
die Irrtümer meines Gesanges.

Ich bedanke mich für eure Geduld und die Großzügigkeit, mich hier sprechen zu lassen.
Viel Vergnügen mit dem Film Die Kunst, viele zu bleiben.

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