Gesellschaft, Staub und Widerstand. Erkundungen im Archiv der Wiener Festwochen

Der Eingang zum Archiv der Wiener Festwochen befindet sich einen Stock unter der Erde, neben dem Serverraum. Wer sich ins Archiv begibt, der muss den Hauptschalter finden, die Treppe hinabsteigen und an Kisten bedruckter T-Shirts vorbei; der sollte keine schwarze Kleidung tragen – der Staub von einigen Jahrzehnten liegt hier – und der erntet oft mitleidige Blicke. Archivalien sichten scheint selbst in Zeiten des kollektiven Mangels sozialer Kontakte als eine besonders asoziale Tätigkeit zu gelten. Dabei kann uns ein Archiv mitten hinein führen in Gesellschaft. Manchmal bietet es, zumal als Theaterarchiv, Zugang zu vergangenen, sinnlichen, gar kulinarischen Erfahrungen. Was wie eine pathetische Formel klingt, ist im Fall des Festwochen Archivs immerhin wörtlich zu verstehen, denn hier lagern zwischen Programmheften und Produktionsfotos auch – als hätte es sich jemand dauerhaft gemütlich gemacht – ein Massagestuhl, ein Wasserkocher und ein Heißluftofen. Mit Grillzange und Halogen-Heizelement zum „Kochen, Braten, Backen und Dünsten“. Daneben ein angegrauter Ticketdrucker, der zwar schon lange keine Tickets mehr ausgespuckt und in vorfreudige Hände übergeben hat, der ästhetisch aber so eindeutig aus den 1990er-Jahren stammt, dass man ihn dennoch laut rattern hören kann. Kurzum: Das Archiv lebt.

Die „Gleichgültigkeit der Dinge“

Nähern wir uns zunächst den Dingen des Archivs. In ihrer schieren Menge, stummen Zeitzeugenschaft und zeitlichen Entrücktheit können sie überwältigen. Im Archiv der Festwochen lagern Kartons bis unter die Decke, voll von Druckmaterialien vergangener Jahrzehnte, VHS-Kassetten und Produktionsfotos, chronologisch sortiert. Auf einem Stapel aufgerollter Plakate hängt eines in Griffhöhe nach vorn, es zeigt – auseinandergerollt – Mozart mit verkniffener Miene und verdrehten Augen.
Meint er uns? Auf den Programmheften von 1970 blickt Beethoven ebenfalls zerknirscht aus dem Archivkarton, aber er schaut wohl schon immer und bis in die Ewigkeit so. In der Konfrontation mit diesen Dingen könnte leicht der Eindruck entstehen, sie führten ein Eigenleben. Dabei ist es ihre „erhabene Indifferenz“, die uns einlädt, ihnen eine mystische Qualität zuzuschreiben. „Den Dingen ist alles gleichgültig“, schreibt Peter Geimer in seiner Theorie der Gegenstände – sie seien „sehr diskrete Wesen“, die sich selbst nicht äußern und uns nicht meinen.

Warum das Archiv daneben den Eindruck des Besonderen erweckt, darüber haben viele Menschen nachgedacht. So stehen die Objekte des Archivs nie für sich allein, sondern zeugen von den Praktiken früherer Theatermacher*innen und ihres Publikums. Als materiale Reste des Vergangenen wurden sie gewählt, fortzubestehen und weisen zugleich auf einen Verlust all dessen hin, was nicht archiviert wurde. So ragen sie als Aufforderung in die Gegenwart. Wir können uns ihnen zuwenden, sie ignorieren, ihnen Sinn zuschreiben oder eine Verwendung für sie finden. Das Archiv ist damit eine gegenwärtige Angelegenheit.

Lob der Historizität

Was könnten wir also mit dem Archiv anfangen? Eine umfassende Rekonstruktion früherer Festivals ist unmöglich und sinnlos, insofern uns die Gegenwart auch etwas bedeutet. Die fetischisierende Überhöhung der Dinge ist möglich, führt aber am Ziel vorbei. Vielmehr können wir in den Archivalien die Vergangenheit und Gegenwart des Festivals, seiner Menschen und der Stadt in stetigem Rückbezug auf uns selbst erkennen. Mit den Objekten sind die Akteur*innen untrennbar verbunden, die sie gefertigt, genutzt und archiviert haben. Von der Struktur des Archivs, der Gestaltung eines Programmhefts bis hin zum Blickwinkel einer Theaterfotografie – das alles erzählt von theatralen Vorlieben, thematischen Bedürfnissen und formalen Zugriffen einer Zeit. Bei der Verknüpfung von Objekten und den an ihnen beteiligten Menschen kann der Begriff der „Affordance“ helfen, den Caroline Levine aus der Designtheorie entlehnt hat.
Er bezeichnet das stillschweigende Angebot, das in einem Gegenstand liegt und das vorgibt, wie er zu nutzen sei. Es verweist so auf die Absichten und Kontexte, in denen er gefertigt wurde. Im Archiv, bis hinein in seine systematische Ordnung, liegen also immer auch Absichtserklärungen und bestimmte Ideen von Festival. Sie sind vielfältig und historisch variabel.

Vorhang auf in Rot-Weiß-Rot

Begeben wir uns direkt hinein in die Kartons und Mappen. Sie bewahren Ideen, (Gründungs-) Mythen, Entwürfe und Gegenentwürfe. 1951 finden die ersten Festwochen nach dem Zweiten Weltkrieg und im Anschluss an die Musik- und Theaterfeste des „Roten Wien“ der 1920er und 30er Jahre statt. Die Bildsprache der Programme, die das Kulturamt unter Stadtrat Hans Mandl wählt, ist eindeutig: Ein kleiner Marmorengel bringt die ersten Festwochen. Im Jahr darauf lüftet sich ein Vorhang in Rot-Weiß-Rot und ermöglicht den Blick auf eine friedliche Stadt – Rathaus und Parlament als Symbole der Stadt und Demokratie sind hell erleuchtet. Man habe, so steht es im ersten Programmheft, lediglich eine Pause gemacht. Der Zweite Weltkrieg wird verklausuliert als „Misere“ und „Schicksalszeit“ umschrieben. Programmatisch griff man stattdessen weiter in die Vergangenheit und auf alte Musiktraditionen, aber auch auf die Moderne zurück. Die Tänzerinnen Rosalia Chladek und Grete Wiesenthal traten als Vertreterinnen der Tanzszene der Zwischenkriegszeit auf. Indes waren viele ihrer Kolleginnen verfolgt und ermordet worden oder ins Exil geflohen. Dem ungeachtet feierten die ersten Festwochen die Wiener Gastfreundschaft und eine kulturelle Tradition, die – unter dem Motto „Unsterbliches Wien“ – einen neuen Glauben in die Zukunft schenken sollte.

Dieses Narrativ durchzieht die Festwochen noch lange wie ein roter Faden: Mit einer nostalgisch und stolz imaginierten Vergangenheit soll die Zukunft der Stadt ermöglicht werden. Die Festwochen sind so Visitenkarte nach außen, Selbstversicherung nach innen und durchaus auch politischer Akteur zur Neupositionierung Österreichs und Wiens. Ab 1958 finden innerhalb der Festwochen die Europagespräche statt, in denen Phänomene der Großstadt und die Ost-West-Politik verhandelt werden. Bundespräsident Franz Jonas betont etwa zur Eröffnung des Gesprächs 1965 die wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb Europas. Jubiläen „großer Musiker“ stehen daneben kontinuierlich auf dem Programm. 1970 fährt ein Beethoven-Bus Festivalbesucher zu dessen ehemaligen Wohn- und Arbeitsorten durch die Stadt, den Kontrapunkt setzt der Film Ludwig Van (R: Mauricio Kagel). Als „Entlarvung jeder gedankenlosen Ehrung Beethovens“ ist er im Rahmen der Arena 70 programmiert und begleitet Beethoven beim Besuch seines eigenen Badezimmers. Zum Mozartjubiläum 2006 schreibt der damalige Intendant Luc Bondy mittlerweile fast entschuldigend: „Im Mozart-Jahr kommen die Festwochen nicht umhin, Ihnen, hoffentlich anmutig, zu zeigen, dass wir nicht ohne Mozart auskommen.“

Archiv der utopischen Entwürfe und kühnen Setzungen

Immer verquickt mit der Feier hochkultureller Leistungen waren Fragen der Teilhabe der Wiener*innen an ihrem eigenen Großstadtfestival. Die Bezirke engagierten sich mit eigenen Veranstaltungen, „die Bewohner des Bezirks Neubau“ wollen, so schreibt es die Bezirksvorstehung 1951, bei der „machtvollen Kundgebung künstlerischer Lebensfreude mitwirken“. Die Beteiligung war vielfältig und offiziell oder institutionell verankert: 1960 sang der Polizeichor am Heldenplatz, 1980 luden die Bootsvermieter an der Donau zum Korso. Daneben formiert sich mit der Arena 70 und später dem 80er-Haus ein Gegenfestival im Festival, das die Jugendbewegungen in die Festwochen holt. Innerhalb der bereits etablierten Festivalstrukturen übt die alternative Szene Gesellschaftskritik: Es wird ein Anti-AKW-Theater aufgeführt und Musik aus Anatolien gespielt, das Eisenerzer Lehrlingstheater parodiert Bruno Kreisky. 1980 fährt ein Kastenwagen mit integrierter Druckerei – der sogenannte „Printbus“ – durch die Bezirke, er soll marginalisierten Positionen eine Stimme geben.

1981 schmelzen überdimensionale Eiswürfel auf dem Rathausplatz. Unter der Leitung der späteren Intendantin Ursula Pasterk ruft die alternative Programmschiene das Motto aus: „Ende der Eiszeit – taut die Stadt auf“. Im Einklang mit der Gefühlskultur der 1980er-Jahre kritisiert sie soziale und technologische Kälte. Auf der Suche nach „Wärme, Phantasie und Sinn“ wird George Tabori eingeladen, der den Untergang der Titanic (Hans Magnus Enzensberger) inszeniert. Der Schauspieler Murray Levi zerschlägt während der Proben einen Eiswürfel und verteilt ihn; von der Decke des Probenraumes hängt ein Eisbeutel und tropft. Das Team der Titanic-Inszenierung diskutiert: „Der Eisberg ist überall, nicht nur auf der Bühne.“ Parallel werden Utopien des Wohnens und Ideen von einem „Anderen Theater“ (1982) entfaltet. Elfriede Gerstl besucht Wiener*innen in ihren Wohnungen und richtet so den Blick auf das potenzielle Publikum der Festwochen. Der Kaufmann Helmut P. erzählt von seiner Netzpython Anna und vermisst Musiklokale, „solche wie die Arena sind zum Teil sehr entlegen“.

Theater, immer. Anders

Nicht erst seit dem Schwerpunkt „Das Andere Theater“ (1982) sind die Festwochen auf der Suche nach einem solchen. Die Materialien des Archivs belegen ein kontinuierliches Nachdenken über Theater und Festival. In den ersten Jahren gehörten Sportveranstaltungen, Eislaufshows oder Kunsthandwerksmessen selbstverständlich dazu. Das Fußballspiel Österreich gegen Schottland fand 1951 im Rahmen der Festwochen statt, daneben Billiard- und Golfturniere sowie Pferderennen in der Freudenau. Viele, teilweise ikonisch gewordene Inszenierungen avancierter Theatermacher*innen – darunter Ariane Mnouchkine, Dario Fo, Franca Rame oder Romeo Castellucci – zeugen ebenso von der Auslotung dessen, was auf einer Bühne und zwischen Akteur*innen und Publikum passieren darf und kann. Öffentlich heiß diskutierte Produktionen sind zum – Skandal! – geworden, das heißt, sie haben zur Neuverhandlung gesellschaftlicher Diskurslinien beigetragen. Oft ging es dabei um politische Themen, um Sexualität und Sittlichkeit. Die Demonstrationen gegen die Oper Jesu Hochzeit (1980, Gottfried von Einem und Lotte Ingrisch) und das Aufsehen um Christoph Schlingensiefs Produktion Bitte liebt Österreich! (2000) sind die vielleicht eindrücklichsten Beispiele dafür, wie Theater das Selbstverständnis Österreichs, seiner religiösen und moralischen Grundfesten befragbar machte. Die Inszenierung von Das Berghotel des tschechischen Autors und Politikers Václav Havel rief politische Reaktionen hervor: Die Sowjetunion und die CSSR verbaten ihren Künstler*innen aufgrund der Programmierung die Teilnahme an den Festwochen 1981.

Festivalgeschichte und Widerstand

Die Festivalgeschichte, die sich über die Materialien erschließen lässt, scheint dabei oft weit von unserer Gegenwart entfernt; manche Themen sind ganz nah. Wurde 1999 die Oper Bählamms Fest als Produktion zweier Frauen – Olga Neuwirth und Elfriede Jelinek – besonders hervorgehoben, wäre dies heute nicht immer noch notwendig? Würden wir 2021 eine soziale „Eiszeit“ diagnostizieren oder nehmen wir unsere Gegenwart nicht eher als „überhitzt“ wahr? Die Archivalien können Verständnis, Überraschung und Befremden auslösen. Oft helfen sie offizielle Aussendungen oder eine retrospektive Verklärung zu korrigieren – interne Rathausberichte zeugen 1951 etwa von einer selbstkritischen Diskussion um die zahlreichen Musikveranstaltungen; zwei Chorkonzerte werden als „kaum verhülltes Debakel“ beschrieben. Das Desinteresse an der 8. Symphonie von Gustav Mahler habe im selben Jahr ein Defizit von 32.000 Schilling verursacht. Wenn Kartenverkäufe, Umbuchungen von Künstler*innen oder Wetterverhältnisse zum Thema werden, tritt zuweilen die profane Realität des Festivalmachens zu Tage.

Die Geschichte, die wir uns durch das Archiv erschließen, stört dabei eine lineare Fortschrittserzählung von Festival und offenbart es stattdessen als Schauplatz stetiger Aushandlung des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der Relationen zwischen Wien und der Welt, der thematischen und formalen Brüche wie Kontinuitäten. Die Versuche etwa, ein Multimediatheater (1971) oder eine Komödie „von unten“ (1968) zu begründen, können die Theaterpraxis der Gegenwart vor einem historisch größeren Horizont begreifbar machen. In diesem Sinn hat der Theaterhistoriker Jan Lazardzig dafür plädiert, „dem Theater – buchstäblich – ein Gedächtnis zu geben“. Das (Theater-)Archiv könne der Enthistorisierung von Theaterpraxis entgegenwirken und sie so auch widerständig machen gegen politische Ideen der Flexibilisierung. Es gilt demnach, die Geschichtlichkeit von Theater zu feiern: „als Bedingung der Möglichkeit kritischer Gegenwartskunst“. Im Archiv der Festwochen können wir uns für die Zukunft erinnern. Wagen wir uns hinein. Und da es sich um ein vergleichsweise junges Archiv handelt, sprechen wir mittels der Materialien über unsere Festwochen Erfahrungen. Wir könnten auch den Massagestuhl, den Wasserkocher und den Ofen hervorholen; die Objekte kräftig durchkneten, die Vergangenheit aufkochen und die Festwochen insgesamt einmal vorsichtig dünsten.

Zum (Weiter-)Lesen

Peter Geimer, Theorie der Gegenstände. „Die Menschen sind nicht mehr unter sich“, in: Jörg Huber (Hg.), Person/Schauplatz, Zürich/New York 2003, 209–222.

Caroline Levine, Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton, N. J., 2017.

Jan Lazardzig, Theater archivieren. Drei Thesen zu einer zeitgemäßen Überlieferungsstrategie des theaterkulturellen Erbes, veröffentlichter Vortrag im Rahmen der Veranstaltung „Was bleibt“, Runder Tisch Berliner Theaterarchive, Januar 2018.

  • Biografie Theresa Eisele

    Theresa Eisele ist Theaterwissenschafterin und Autorin. Sie studierte in Leipzig, Madrid und Wien und forscht zur Theatergeschichte Wiens in der Moderne sowie zu theatralen Denkmodellen von Gesellschaft. 2021 ist sie Visiting Fellow am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Jüngst erschien ihr Buch Szenen der Wiener Moderne. Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen in der Leipziger toldot-Reihe.

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