Dies ist eine Aufzeichnung
von René Pollesch
Eine andere Frage wäre - um die gewöhnliche wegzukriegen: warum etwas nicht mehr funktioniert - eine richtige Frage wäre: „Warum hat es jemals funktioniert?“ Alles was man uns hinterlassen hat, ist für uns völlig unverständlich. Das sehe ich gerade bei einem 30er-Jahre-Farbfilm, bei dem die Leute sich gegenseitig berühren, als wären sie in unverständliche Klassiker verwickelt.
Wenn zwei Personen auf einer Bühne zusammenstehen, sehe ich immer, wie etwa bei untertitelten Filmen, darunter die Worte: „Dies ist ein Klassiker“. Wie auch in vor der Coronakrise aufgezeichneten Fernsehshows, in denen sich Personen unüblich nahekommen, stets eingeblendet wird: „Dies ist eine Aufzeichnung“. Wahrscheinlich auch wegen der Nähe zum „Werther-Effekt“, um sich abzusichern, falls das gezeigte Verhalten auf mimetische Nachahmer stößt. Sarah Waterfeld machte mich neulich darauf aufmerksam, dass aufgrund des „Werther-Effekts“ der gesamte Medienverband sich weitgehend darüber einig ist, nicht oder nur im äußersten Extremfall über Suizide zu berichten. Sie werden weitgehend totgeschwiegen. Und das sollte man mal mit Nazis machen, sollte man anschließen. Also wirklich bei absolut jeder aufgezeichneten Fernsehshow wird eingeblendet: „Dies ist eine Aufzeichnung.“ Aber nochmal zu den zwei Personen, die auf einer Bühne zusammenstehen... Gegen diesen Klassiker nämlich wenden sich vor allem die Merkzettel mit Covid-19-Maßnahmen, die anläßlich der gerade startenden Proben in den Theatern verteilt werden. Die Sicherheitsvorkehrungen bilden eine einheitliche Theaterkonvention und -praxis ab, die damit gleichzeitig suspendiert wird. Dabei kommt es bei einigen Beteiligten sofort zu reflexhaften Verlustgedanken. Sie sagen: Das Theater beruht auf Nähe und Körperkontakt. Aber Theater beruht überhaupt nicht auf Nähe und auf Körperkontakt. Es hat absolut nichts damit zu tun. Und es sollte, vor allem hinter den Kulissen, nichts damit zu tun haben.
Irgendwo stand, Shakespeare hätte zu Zeiten der Pest den ‚Lear‘ geschrieben. Ich halte es aber für denkbarer, und könnte es auch beweisen, es waren viel eher ‚Der verliebte Pilger‘ und ‚Der Phönix und die Turteltaube‘. Es gibt Leute, die annehmen, Theaterautoren könnten in Quarantäne ihre Theaterstücke schreiben. Mich stört an diesen Stücken, dass die sich lesen, als wären keine Schauspielerinnen und Schauspieler daran beteiligt gewesen (oder zudem die Adressaten). Was tatsächlich leider auf die meisten Theaterstücke zutrifft, die als Texte zu kriegen sind. Die größte Errungenschaft für mich als Theaterautor ist es, jede Annahme, ich würde gerade jetzt Stücke schreiben, selbstbewusst von mir zu weisen. Ich bin froh, mir erarbeitet zu haben, was man gemeinhin von der Schauspielerin und dem Schauspieler denkt, nämlich, dass sie alleine nicht arbeiten können (was sie natürlich viel eher können). Interviewanfragen von Zeitungen sage ich in diesen Zeiten ab mit dem Hinweis, dass ich es für unerträglich halte von jemandem interviewt zu werden, der, im Gegensatz zu mir, Arbeit hat. „Hör mal, ich hab auch Fragen!“ „Dann denk eben nicht!“ Mit Denken bin ich irgendwie noch zu gar nichts gekommen. Man kann alleine gar nicht denken, das ist immer nur fühlen. Alleine fühlt man sich immer gut. Ich brauche jemanden um zu denken. Aber ich brauche niemanden, um zu sprechen. Das ist deshalb so schwierig zu sehen, weil man immer denkt: also sprechen, dazu gehören doch zwei, NEIN! Zum Denken gehören zwei oder drei oder vier etc. Zum Sprechen, wenn man das Kunststück hinkriegt, braucht es nur einen. An keinem Ort ist das so exponiert wie im Theater, und vielleicht auch in einem Seminarraum, dass da vorne einer alleine spricht, aber er denkt nicht. Im Theater wird erst gedacht, wenn eine zweite oder eine dritte Person hinzukommt. Gesprochen wird nur allein.
Ich hab mal mit jemandem zusammengewohnt, in ner WG, und wir haben uns auch gut verstanden, aber wir hatten uns nicht viel zu sagen. Und das war auch nicht schlimm. Aber manchmal, und zwar immer ausgerechnet dann, wenn ich mir zum Beispiel gerade die Zähne geputzt habe, kam er und fing ein Gespräch mit mir an. Also eigentlich dann, wenn das gar nicht möglich war. Zum Beispiel auch, wenn ich an der elektrischen Kaffeemühle stand, und auf die Taste drückte, kam er immer und wollte ein Gespräch anfangen. Also wenn die Kaffeemühle einfach nen ohrenbetäubenden Lärm machte, kam er zu mir und sprach mich an. Und ich hab ihn natürlich nicht gehört. Und der hat das gar nicht mit Absicht gemacht. Also ich glaube das war ihm gar nicht klar. Aber für mich war zum Beispiel ziemlich entlastend, dass das gar kein Gespräch werden konnte. Also wenn ich mir gerade die Zähne putzte, konnte ich natürlich nicht antworten. Und beim fünften Mal dachte ich, das kann doch nicht wahr sein, der kann doch nicht jedes Mal kommen, wenn ich mir die Zähne putze, warum ausgerechnet jetzt? Und irgendwann ist mir aufgefallen, er spricht eben, ohne für ein Gespräch sorgen zu müssen, und ich denke, da spricht dann wirklich etwas. Wenn die Kaffeemühle an ist, ist klar das hier wird kein Gespräch und jetzt kann ich endlich mal anfangen zu sprechen. Ja, das ist es. Man muss irgendwie anders zum Sprechen kommen. Also wenn so zwischen 200 und 600 Leute im Zuschauerraum gerade ihre Zähne putzen. Dann geht das. Oder wenn sie die Tasten von ihren Kaffeemühlen drücken. Dann kann man sprechen.
Alles macht man für jemand anderen. Was auch gut ist. In der
Wirklichkeit. In der Politik. Man wacht auf für jemanden, man geht zu
Bett für jemanden. Für jemanden, den man liebt zum Beispiel. Aber einen
Ort gibt es, an dem man etwas nur für sich macht, oder alle es dort nur
für sich machen, und an dem man sogar sagen darf zu den anderen an den
anderen Orten: „Macht es für euch!“ Ja, und NICHT aus Liebe. Ja gut, man
wird dabei beobachtet. Aber man macht es dennoch nur für sich. Und das
ist das Kunststück.
Erschienen in Why Theatre, NT Gent, 2020 (Verbrecher Verlag Berlin, herausgegeben von Kaatje De Geest, Carmen Hornbostel und Milo Rau)