Rede an Europa 2024
Europa und seine Opfer: Jenseits des Mythos der nationalen Souveränität
von Omri Boehm
von Omri Boehm
Als ich im Februar eingeladen wurde, am Wiener Judenplatz die „Rede an Europa“ zu halten, nahm ich diese Einladung aus einem persönlichen Grund besonders gerne an, und zwar wegen meiner Familiengeschichte. Meinem Sohn und meiner Frau war gerade die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden. Sie erhielten sie, weil die Familie meiner Frau aus Österreich fliehen musste – zumindest einigen von ihnen gelang die Flucht –, so auch die Großmutter meiner Frau, Mailta (Miriam) Schertzer, die, soweit ich weiß, 1938 von der gleichen Jugend-Alija aus Wien nach Palästina gebracht wurde wie meine Großmutter bei ihrer Flucht aus Deutschland. Für uns, für mich und meine Familie, sollte diese „Rede an Europa“ auch eine Gelegenheit sein, Miriams Stadt zu besuchen und ihre damalige Schule – das Brigittenauer Gymnasium, nun Gymnasium am Augarten genannt –, eine Schule, die eine bekannte Gedenkstätte errichtet hat, um an jene Klassenkamerad:innen Miriams zu erinnern, denen die Flucht nicht gelang, und die schließlich nach Auschwitz deportiert wurden.
Miriams Eltern wurden aus Wien nach Dachau und Auschwitz verbracht, sie überlebten, und wurden schließlich in Israel mit ihrer Tochter wiedervereint. Ich kann mich gut an mein Zusammentreffen mit Miriam erinnern, bei dem ich versuchte, sie mit meinen Deutschkenntnissen und mit Geschichten über das Europa zu beeindrucken, in das sie nie wieder zurückkehrte: Wie verlegen, überrascht und beglückt war diese ältere Dame aus dem kleinen Moshav in Israel, deren Leben als „Malita“ in Wien begonnen hatte.
Lange bevor es Gerüchte über eine Kontroverse im Zusammenhang mit dieser Rede gab, wusste ich, dass wir nicht nur mit einem Verständnis, sondern mit einem auf persönlicher Erfahrung gründenden Wissen über diesen Ort hierherkommen, und mit dem tiefen Gefühl, dass unerträgliche private Erinnerungen hier von immenser öffentlicher Bedeutung sind. Wir verstehen, wie eng dieser Ort verwoben ist mit dieser Stadt, mit diesem Kontinent – und wir wissen ganz genau, dass die Wurzeln dieses Ortes bis in unser eigenes Land, bis nach Israel, reichen.
Aus diesem Grund verweigere ich es, diesen Platz zu entehren, weder durch etwas, das ich sagen werde oder sagen könnte und schon gar nicht, indem ich auf Versuche reagiere, etwas, bei dem es um Inhalte, Argumente und respektvoll verhandelte Meinungsunterschiede gehen sollte, zu skandalisieren. Es ist sehr bedeutsam, dass hier vor mir auf dem Judenplatz Lessings Statue steht, ihren Blick auf mich, auf uns alle und auf das Mahnmal hinter mir gerichtet. Lessing war derjenige, der eine für mich essentielle Verknüpfung zwischen der Aufklärung und der Freundschaft hergestellt hat. Die Freunde der liberalen Demokratie und die Freunde Europas, die sich auf dem Judenplatz versammelt haben, erörtern ihre Meinungsverschiedenheiten, ihre Vorbehalte und Sorgen. Vernunft geht Hand in Hand mit Freundschaft. Populismus und Nationalismus mit Eierwerfen und Gebrüll. Täuschen Sie sich nicht: Eier können gefährlich sein. Sie sind es dann, wenn sie eingesetzt werden, um zu demütigen. Sich für die Vernunft zu entscheiden, bedeutet, den Lärm in den Hintergrund treten zu lassen, jenen, die diese Rede kritisiert und versucht haben, sie zu verunmöglichen, die Hand entgegenzustrecken – und voranzuschreiten.
“Ihr seid mehr als eure Mythen“
Als Timothy Snyder 2019 die erste Rede an Europa hielt, machte er diese Botschaft zum Motto seiner Rede. „Ihr seid mehr als eure Mythen.” Ich will mich dieser Botschaft anschließen und diese Frage erneut stellen: Was bedeutet es für Europa, mehr zu sein als seine Mythen?
Eine Möglichkeit, dieses Motto zu deuten, ist, dass Europa den Mythos mit der Geschichte konfrontieren muss. Das ist, was Snyder vorschlug: Er meinte, dass Europa, wenn es seiner Rolle als Hoffnungsträger – und es ist ein Hoffnungsträger – gerecht werden möchte, dann müssen sich Europäer:innen für die Geschichte als das Gegenteil des Mythos entscheiden. Es gibt zwei Arten des Erinnerns, argumentierte Snyder, erstens das Erinnern über Mythen, die „euch zu euch selbst zurück[führen], zu einer Erzählung darüber, dass ihr immer richtig lagt”. Das ist der Grund, warum Mythen national oder sogar nationalistisch sind. Eine andere Art sich zu erinnern, ist die Geschichte. Durch sie sei es möglich, „das, woran ihr euch erinnert, mit dem zusammenzubringen, woran sich andere erinnern und dabei eure Erinnerung beständig und kritisch mit anderen Quellen und Perspektiven zu vergleichen, so dass ihr euch (als gescheiterte Imperien) der eigenen Verantwortung bewusst werdet”.
Ich stimme mit Snyder darin überein, dass Europa mehr sein muss als seine Mythen. Ich stimme auch zu, dass die Geschichte dabei wichtig ist, sogar notwendig, würde aber hinzufügen, dass sie nicht hinreichend ist. Um mehr zu sein als seine Mythen, wird Europa auf der Realität seiner Ideale insistieren müssen. Denn in Wirklichkeit ist nicht die Geschichte das Gegenteil des Mythos, sondern, sofern sie die Autorität ihrer eigenen Ideale ernstnimmt, die Vernunft. Und die Autorität der Geschichte, auch oder gerade, wenn sie uns dazu zwingt, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, kann mitunter dazu beitragen, unsere Ideale zu untergraben.
Man könnte es auch so formulieren: Die Geschichte sollte wegen unseres Bekenntnisses zu Idealen beachtet werden. Wenn Ideale nur aufgrund unseres Bekenntnisses zur Bedeutung der Geschichte berücksichtigt werden, laufen wir Gefahr, dass die Geschichte unsere Ideale zu Mythen – zu Nationalmythen – verkommen lässt. Europa, die europäische Politik wie das intellektuelle Leben, sieht sich heute mit dieser Herausforderung konfrontiert, während die populistische Rechte an Stärke gewinnt und droht, die historische Verantwortung für ihre Zwecke zu missbrauchen. Wir sollten uns der Herausforderung stellen. Nicht etwa, indem wir die Autorität der Geschichte infrage stellen, sondern indem wir sie schützen dadurch, dass wir auf der Realität unserer Ideale beharren. Damit werde ich mich in meiner Rede auseinandersetzen, aber lassen Sie mich am Anfang beginnen.
Als sich die Vereinigten Staaten von Amerika von Europa lösten und ihre Unabhängigkeit von der europäischen Souveränität erklärten, taten sie das, indem sie sich auf die Autorität der Wahrheit, nicht auf jene der Geschichte, beriefen.
„Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden, wozu Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit gehören“. Können wir auch heute noch hinter der Autorität dieser selbstverständlichen, von den amerikanischen Gründungsvätern verlautbarten Wahrheiten stehen? Mir scheint, dass die meisten, von den so genannten postkolonialen Kitiker:innen bis hin zu den liberalen Theoretiker:innen der Mitte, dies in der Tendenz verneinen.
Diejenigen an einem Rand des Spektrums bemängeln, dass die Gründungsväter selbst Sklavenhalter waren. Und dass “MEN” in der Erklärung “All men are created equal“ wortwörtlich zu verstehen sei, somit von Männern, noch dazu ausschließlich weißen Männern, die Rede sei. Sie behaupten, dass der von der Aufklärung propagierte Universalismus, der in diesem Satz zum Ausdruck kommt, bestenfalls eine Maskierung sei, die es europäischen Männern erlaubt zu diskriminieren und sich selbstgefällig weiszumachen, sie hielten an universalistischen Idealen fest.
Oder schlimmer noch: dass diese Ideale das ideologische Fundament dafür bildeten, dass Europäer:nnen diskriminieren, vernichten und versklaven. Das Argument lautet wie folgt: Die kosmopolitische Tradition, die den Mann oder die Menschheit zum Maß aller Dinge – zum Ursprung der Werte, der Autorität, des Rechts – erklärt, kann nicht unterschieden werden von jener Tradition, die den Menschen als „Herren und Eigentümer der Natur“ postuliert. Und wenn das stimmt, dann ist die kosmopolitische Tradition, die ihren Anfang in der Theorie der Würde des Menschen nimmt, faktisch nicht zu unterscheiden von einer Geschichte, die Euroäer:innen zu Kolonisator:innen von Kontinenten, zu Naturschänder:innen – die nun den Niedergang der Natur zu verantworten haben – und zu Verantwortlichen für die Versklavung von Menschen machen. Die selbstverständlichen Wahrheiten der Gründungsväter werden so zu nationalen Mythen, die uns suggerieren, dass „wir immer richtig lagen“.
Vertreter:innen der anderen Seite des Spektrums, liberale Denker:innen der politischen Mitte, geben vor, entrüstet zu sein, wenn sie mit einer Leugnung des europäischen Universalismus der Aufklärung konfrontiert sind. Doch tatsächlich beruht das liberale Denken der Nachkriegszeit auf einer sehr ähnlichen Leugnung. Als der Vater des amerikanischen Liberalismus, John Rawls, sagte, dass Gerechtigkeit „politisch, nicht metaphysisch“ sei, meint er genau das: Selbstverständliche Wahrheiten wie sie in der Unabhängigkeitserklärung formuliert sind, können in modernen demokratischen Gesellschaften keine Autorität genießen. „Die Philosophie,“ schreibt er „verstanden als Suche nach der Wahrheit einer unabhängigen metaphysischen und moralischen Ordnung, kann nach meiner Überzeugung in einer demokratischen Gesellschaft keine brauchbare gemeinsame Basis für eine politische Gerechtigkeitskonzeption darstellen.“ Dabei handelt es sich um eine dramatische Zurückweisung der Unabhängigkeitserklärung. Die von ihr festgehaltenen selbstverständlichen Wahrheiten sollen behandelt werden wie eine Religion: toleriert, respektiert als Privatsache, und eben nicht anerkannt als Grundlage des Rechts. Der Punkt ist folgender: Nicht nur die so genannte postkoloniale oder identitäre Linke lehnt das universalistische Ideal der europäischen Aufklärung ab; in der Tat gibt es einen breiten Konsens über diese Ablehnung in der Linken wie in der liberalen Mitte. Dass sie auch von der wachsenden identitären populistischen Rechten abgelehnt wird, muss nicht weiter ausgeführt werden.
Ich habe mich bewusst für Fragen entschieden, die aus dem Amerika des Jahres 1776 importiert wurden, weil es einfacher ist, zunächst so zu tun, als seien diese Fragestellungen sehr weit weg, bevor ich sie in den Mittelpunkt der gegenwärtigen europäischen Realität zurückhole. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass die Amerikaner:innen den selbstverständlichen Wahrheiten der Unabhängigkeitserklärung nie eine rechtliche Bedeutung beimaßen – sie haben sie nie in die Verfassung aufgenommen –, während das Europa der Nachkriegszeit diesen Schritt gesetzt hat, und zwar mit der folgenden Erklärung: “Die Würde des Menschen ist unantastbar“
So lautet natürlich der erste Satz des deutschen Grundgesetzes, aber wichtig ist, dass er mehr ist als nur das. Der gleiche Satz ist auch der erste Artikel in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Und das Ideal der Menschenwürde ist ebenso der Anker der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die wiederum das Vorbild für zahlreiche europäische Verfassungen der Nachkriegszeit war (Allerdings nicht für die österreichische! Nicht für Kelsen! Aber wenn sie mich fragen: Es ist nie zu spät). Die Feststellung, dass die Menschenwürde unantastbar ist und dies der Ursprung des Rechts ist, ist ein Ideal des aufklärerischen Universalismus, das wir für unsere Zwecke als identisch mit den selbstverständlichen Wahrheiten der Unabhängigkeitserklärung erachten. Es bekräftigt, dass die Menschenwürde unabdingbar, und die Autorität des Rechts zu ihr relativ ist. Dies rückt die universalistische oder kosmopolitische Tradition übrigens viel näher an eine radikale, abolitionistische Demokratiekonzeption heran als gemeinhin anerkannt wird, aber ich möchte diese Tatsache beiseitelassen und mich zwei Fragen widmen:
Erstens: Ist dieser Grundsatz, der das Ideal des aufklärerischen Universalismus zum Ausdruck bringt, tatsächlich eine Ausdrucksform des europäischen Rassismus und Kolonialismus? Sollten wir das Ideal der Menschenwürde als Antwort auf die vergangenen monumentalen Verbrechen Europas zu Zeiten der Imperien – von den Verbrechen des Holocausts bis zu jenen des Kolonialismus – verteidigen und wieder aufleben lassen? Oder ist ein solcher Humanismus in Wirklichkeit die Quelle dieser Verbrechen, und das deutsche Grundgesetz, die Europäische Charta der Grundrechte und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen müssen „entkolonialisiert“ werden?
Zweitens: Sofern wir uns zu diesem Prinzip bekennen, können die europäischen liberalen Denker dies wirklich tun – und mit „wirklich“ meine ich: Können sie es auch dann, wenn dieses Prinzip ihre Interessen, ihre Identität, ihre innersten Überzeugungen infrage stellt? Oder markiert unsere Hoffnung, das Bekenntnis zur Menschenwürde in historischer Verantwortung zu begründen, auch die Grenze dieses Ideals – und laufen wir Gefahr, es zum Mythos zu verkommen zu lassen?
Ich möchte diese Fragen in aller Ruhe behandeln.
Schauen wir uns den Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar erneut an. Auf den ersten Blick scheint es sich hier nicht um einen Mythos zu handeln, sondern schlicht um eine Unwahrheit. Die Menschenwürde ist antastbar, und sie wird verletzt, während wir sprechen. Wenn es sich nicht nur um eine falsche Behauptung handelt, dann ist das, was sie als solche erscheinen lässt, genau das, was sie so poetisch oder sogar prophetisch macht. Eine der großen Innovationen der biblischen hebräischen Propheten war eine stilistische Innovation (Es klingt, als würde ich abschweifen, aber das tue ich nicht): Sie pflegten das Kontrafaktische, sogar das Unmögliche, als tatsächlich wahr darzustellen. Diese stilistische Neuerung hatte mit einer humanistischen Erkenntnis zu tun: Ein Satz, der etwas beschreibt, das bestenfalls präskriptiv zu sein scheint – Die Würde des Menschen ist unantastbar –, der den Imperativ nicht als Imperativ versteht, sondern als wahr behauptet, ist strenggenommen entweder falsch oder beschreibt eine höhere Realität. Wenn man das begreift, begreift man etwas, das in den hebräischen Propheten, in Platon und in Kant steckt und dem lakonischen Satz Die Würde des Menschen ist unantastbar seine erhabene Ästhetik verleiht. Das Wesen, das in der Lage ist, diese Aussage zu treffen – und das ästhetische Empfinden, das diese poetische Geste hervorruft, zu erleben –, besitzt Würde und verdient Respekt. Man könnte meinen, dass das, was wir manchmal Realität nennen – die Realität, in der wir im Supermarkt Milch kaufen; die Realität, in der ganze jüdische Familien an der Grenze von Gaza massakriert und verbrannt werden; die Realität, in der eine ganze palästinensische Bevölkerung ausgehungert und bombardiert wird –, dass diese Realität
jenes Ideal in einen Mythos verwandelt und die Poesie, von der ich gesprochen habe, in populistischen Kitsch. Ob sich das Ideal oder der Mythos durchsetzt, hängt von uns ab.
Wir könnten uns fragen: Wenn wir dieses Prinzip ernstnehmen, es als tatsächlich gültig verstehen, wodurch wird es begründet, was macht es wahr? Diese Frage werde ich an dieser Stelle nicht behandeln. Uns ist es wichtiger zu erkennen, wodurch es nicht begründet werden kann. Wenn die Auffassung, dass die Menschenwürde unantastbar ist, auf einer Entscheidung der Europäer:innen, der Deutschen, der Italiener:innen, der Österreicher:innen basiert, dann liefert gerade diese Tatsache die Erklärung dafür, warum die Menschenwürde sehr wohl verletzbar ist. Ein unbedingter Anspruch kann nicht von der Entscheidung irgendeiner anderen Person abhängen: Es ist zwar schön, wenn beispielsweise das deutsche Volk beschließt, die Menschenwürde als unantastbar zu erachten; wir wissen aber nur zu gut, dass es sich auch anders entscheiden könnte. Diese Erkenntnis macht einen wichtigen Punkt deutlich: Das Bekenntnis zur Menschenwürde als „unantastbar“ kann nicht von der nationalen Souveränität, von der Entscheidung oder dem Willen eines Volkes abhängen. Die Menschenwürde markiert die Grenze nationaler Souveränität. Diese Tatsache ist wichtig, denn sie zeigt die Kontinuität zwischen der abstrakten Rede von der Würde und zwei sehr konkreten europäischen Trends:
Die erste Tendenz ist die Selbstbeschränkung der nationalen staatlichen Souveränität durch die staatlichen Vorrechte, zum Beispiel durch den Beitritt zu föderativen Konstellationen, die Unterwerfung unter das internationale Recht oder unter internationale wie europäische Gerichtshöfe. Europa hat sich im Einklang mit der Anerkennung der Menschenwürde von einem nationalen über ein internationales hin zu einem kosmopolitischen Rechtssystem gewandelt, also von einer Rechtsform, die die ultimative nationale Souveränität der Staaten anerkennt, zu einer, die sie infrage stellt.
Der zweite Trend ist jener, den ich als Verfassungspatriotismus bezeichne, und damit meine ich eine sehr umfassende Idee: die Erkenntnis, dass die Zugehörigkeit zu einer souveränen Nation weder das richtige Blut noch die richtige Sprache, Geschichte oder Kultur voraussetzt. Man gehört dem deutschen, österreichischen oder italienischen Volk an, weil man die deutsche oder die italienische oder die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt.
Als Timothy Snyder 2019 auf diesem Platz stand und Europa dazu aufforderte, mehr zu sein als seine Mythen, warnte er, dass die „nette Erzählung über kleine, unschuldige Staaten“ es den Europäer:innen nicht erlauben würde zu begreifen, was an Europa so einzigartig ist, nämlich „dass die Europäische Union die eine erfolgreiche Antwort auf die wichtigste Frage der Geschichte der modernen Welt ist“. Die Frage lautet: Was tun nach dem Imperium? Was tun mit dem Imperium? Es gäbe zwei schlechte Antworten – die Gründung von Nationalstaaten und der erneute Aufbau von Imperien. „Die Europäische Union ist die einzige neue, erfolgversprechende und produktive Antwort auf diese Frage.“ Ich wiederhole das hier, weil ich davon überzeugt bin, dass der Ansatz, die Menschenwürde zu achten, indem die nationale Souveränität kontrolliert und die Nation durch ein starkes Konzept der Bürgerschaft ersetzt wird, die beiden wesentlichen und neuartigen Bestandteile der erfolgreichen Antwort Europas auf diese monumentale Frage sind. Diese Antwort ersetzte das Hobbes-Schmitt‘sche Festhalten an einem souveränen Leviathan als Antwort auf den „Krieg aller gegen alle“ – und bekräftigte, dass die Würde das Fundament des menschlichen Gemeinwesens bilden muss und nicht die Angst –, und dass zum Schutz der Würde durch den Rechtsstaat die Souveränität in Frage gestellt, kritisiert, ja sogar dekonstruiert werden muss, statt von nationalen Leviathanen durchgesetzt zu werden. Als Hobbes von Leviathan sprach, diesem Symbol eines mythischen Ungeheuers, wusste er, warum: weil Souveränität einen Mythos braucht. (Und wir behaupten ja, dass Europa mehr sein muss als seine Mythen).
Und das ist der Punkt: Während hierin der Kern der erfolgreichen Antwort Europas auf seine Vergangenheit – die „wichtigste Frage der modernen Welt“ – liegt, nämlich in der Ablösung der nationalen mythischen Leviathane, haben die europäischen Denker das genaue Gegenteil dieser Prinzipien vertreten, sofern Europa seinen Blick nach außen richtete: auf die Opfer seines Imperiums.
Auch wenn das zerfallende Europa schließlich lernen sollte, Souveränität in Frage zu stellen, herrschte die Auffassung, dass nationale Souveränität der Schlüssel zur Befreiung kolonisierter Nationen sei. Und im Hinblick auf die Jüdinnen und Juden nach dem Holocaust bedeutete dies, dass man der Überzeugung war, dass sie sich nach der systematischen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden verteidigen und ihre Würde als Nation wiederherstellen müssen, indem sie einen souveränen jüdischen Staat begründen. Und passt auf: In diesem historischen Moment lagen sie nicht falsch.
Daher kann Europas Antwort, wenn sie auf die Opfer Europas angewandt wird, wie der verbleibende intellektuelle Ballast des Imperiums oder wie die Überreste der kolonialistischen Ideologie erscheinen, die sich den Opfern Europas auch nach dem Ende des Imperiums weiter aufzwingen und deren Emanzipation verhindern will. Hat die erfolgreiche Antwort Europas auf die Vergangenheit als Imperium auch für die ehemaligen Opfer dieses Imperiums Gültigkeit?
Und es stellt sich eine weitere Frage: Kann die Antwort, die Europa für sich gefunden hat, fortbestehen, wenn wir ihre Gültigkeit bestreiten, sofern es um die Opfer Europas geht? Es ist ganz einfach: Wenn wir anerkennen, dass andere das Recht haben, die Menschenwürde zu verletzen, erkennen wir damit auch unsere Pflicht an, ihr Recht zu respektieren – die Menschenwürde ist dann für uns allenfalls wichtig, aber nicht unantastbar. Und das ist entscheidend: Sobald man das nach außen hin anerkennt, erkennt man auch etwas nach innen hin an – man kann sich schlichtweg nicht auf dieses Prinzip als Grundnorm berufen. In Anlehnung an Snyders Frage würde ich sagen: Darin liegt die wichtigste Frage zur Antwort auf die wichtigste Frage der Geschichte der modernen Welt.
Für postkoloniale Denker:innen könnte die Begrenzung der befreiten Nationen durch die kosmopolitische Idee der Humanität und ihre Entsprechungen im internationalen Recht wie eine Form des Neokolonialismus erscheinen: als würden den Opfern die Antworten Europas auf sein eigenes zerfallendes Imperium aufgezwungen und so deren Emanzipation verhindert werden. Wenn es nicht um den Kolonialismus, sondern um den Holocaust geht, wird derselbe Einwand vorgebracht. Der Vorschlag, eine israelische Verfassung nicht mit der Souveränität des jüdischen Volkes, sondern mit der Achtung der Menschenwürde als Ursprung des Rechts zu beginnen, laufe, so lautet das Argument, darauf hinaus, ihnen die europäischen kosmopolitischen Ideale aufzuerlegen, und so die jüdische Souveränität infrage zu stellen. Versuchen Sie vorzuschlagen, dass eine israelische Verfassung nicht mit der Souveränität des jüdischen Volkes, sondern mit dem Bekenntnis zur Menschenwürde als Ursprung des Rechts beginnen soll. Dies würde also bedeuten, ihnen europäische kosmopolitische Ideale aufzuzwingen mit dem Ziel, die jüdische Souveränität infrage zu stellen (Es stimmt zwar, dass Israel die Menschenwürde in seinem Grundgesetz erwähnt, aber das Gesetz unterwirft diesen Grundsatz ausdrücklich der Verteidigung der jüdischen Souveränität – deshalb erwähnt es auch nicht die Gleichheit aller, die den Kern der Würde ausmacht. Stellen Sie sich eine israelische Verfassung vor, die das gemacht hätte.)
Die eine Seite deutet eine solche universalistische Politik als Rassismus oder Kolonialismus, die andere als Antisemitismus. Und da alle Seiten diese Souveränität als Nullsummenspiel und Bedingung ihrer eigenen Existenz betrachten, befinden sich diese Doktrinen nun nicht mehr nur im Widerstreit, sondern auf Kollisionskurs: Die Situation ist so gewalttätig und die Debatte derart aufgeheizt, nicht etwa, weil beide Seiten so unterschiedlich sind, sondern weil sie einander so ähneln.
Für viele Vertreter:innen der Linken, und bestimmt der postkolonialen Linken, sind die Palästinenser:innen die ultimative Verkörperung des Kampfes gegen den europäischen Kolonialismus. Wer ihr Recht auf bewaffneten Widerstand infrage stellt, indem er beispielsweise den Angriff der Hamas auf Zivilist:innen verurteilt, relativiere oder kontextualisiere den Kolonialismus. Welches Recht haben die Europäer:innen, lautet das Argument, den Einsatz von Gewalt jener zu kritisieren, die nicht einmal unter dem Schutz des Gesetzes stehen? Auf der anderen Seite beobachten wir in Deutschland, und nicht nur in Deutschland, die im Wesentlichen gleiche, aber im Resultat entgegengesetzte Vorstellung, dass Jüdinnen und Juden, repräsentiert durch den Staat Israel, menschliches Leid und das Recht auf Selbstverteidigung verkörperten: Wer also fordert, dass sich das Land einer neutralen liberaldemokratischen Verfassung unterwirft – das hieße ein Staat für alle Bürger:innen – und dem Völkerrecht rechenschaftspflichtig wird, relativiere das Recht der Jüdinnen und Juden auf Selbstverteidigung. Während die Antwort Europas auf sein zerfallendes Imperium darin bestand, die Souveränität zu dekonstruieren, indem es sie durch die Menschenwürde begrenzte, bestand die Antwort der Opfer darin, die nationale Souveränität für unantastbar zu erklären. Jede Seite gibt also vor, etwas Ultimatives, Absolutes zu verkörpern, und relativiert dabei die Menschenwürde der Angehörigen der anderen Gruppe.
Dies wurde anhand der Reaktionen deutlich, die man in intellektuellen Kreisen auf das systematische, sadistische Massaker der Hamas an ganzen Familien, auf Vergewaltigungen und Brandstiftung beobachten konnte. Man kann nicht darüber hinwegtäuschen: Die Reaktionen an Universitäten bewegten sich zwischen offener Freude über diesen Akt angeblichen Widerstandes und Toleranz oder zumindest das Beharren darauf, dass die Palästinenser:innen das Recht hätten, „bewaffneten Widerstand“ gegen ihre „Kolonisatoren“ zu leisten. Auf das Argument, dass dies bestenfalls eine Duldung und schlimmstenfalls eine Unterstützung des völkermörderischen Antisemitismus sei, regierten sie in der Regel mit der Behauptung, dass die Hamas keine antisemitische Organisation sei, unter anderem, weil der Anschlag Israelis und nicht Jüdinnen und Juden als solchen gegolten hätte. In der Charta der Hamas von 1988 aber heißt es ausdrücklich: „(Der Jüngste Tag) wird kommen, da die Muslime gegen die Juden solange kämpfen und sie töten, bis sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken. Doch die Bäume und Steine werden sprechen: „Oh Muslim, oh Diener Allahs, hier ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt. Komm und töte ihn!“
Früher gab es die Tendenz, diese Klausel zu ignorieren oder zu behaupten, die Hamas habe sie fallengelassen. Aber es ist sehr plausibel, dass genau dieser Satz in den Köpfen derjenigen, die das Massaker verübten, sehr lebendig war. Nicht wenige von ihnen schienen am 7. Oktober genau das gedacht zu haben: dass der Tag des Jüngsten Gerichts gekommen war. Diese Tolerierung ist weit verbreitet, und es ist wichtig zu sagen, dass sie zuweilen mit der Idee der kolonisierten Souveränität im Hinterkopf erfolgte. Das wird am deutlichsten, wenn die gleichen Leute – Student:innen, Dozent:innen –, die das Massaker tolerieren, „from the river to the sea, Palestine will be free“ skandieren. Täuschen Sie sich nicht: Sie meinen nicht, Palästina werde frei sein im Sinne von„demokratisch für alle“, sondern vielmehr „frei von Jüdinnen und Juden“. Um genau zu sein, und das ist der Punkt, neigen sie dazu, das Urteil auszusetzen, um die angeblich neokolonialistische Annahme zurückzuweisen, dass sie das Recht haben, für die Palästinenser:innen zu entscheiden. Ob „from the river to the sea, Palestine should be free“ frei „von Jüdinnen und Juden“ oder „demokratisch für alle“ bedeutet, ist nach dieser Auffassung nicht etwas, das die ehemaligen europäischen Kolonisatoren für die Palästinenser:innen entscheiden können. Nationale Souveränität wird als das unantastbare Vehikel für die Befreiung dargestellt. Wie Yanis Varoufakis es ausdrückte: „Ich wurde gefragt, ob ich die Hamas verurteile, und habe nein gesagt. Aber ich verurteile jede Gewalt gegen Zivilisten. Ich verurteile auch die israelischen Siedler nicht. Auch nicht Benjamin Netanjahu. Ich verurteile uns Europäer.“ Wenn Sie mich fragen, dann hat das nichts damit zu tun, sich zur historischen Verantwortung Europas zu bekennen, sondern sich hinter ihr zu verstecken, mehr noch, sie zu verhöhnen. Die andere Seite dieses Spektrums funktioniert nach der exakt gleichen Logik. Am deutlichsten zeigt sich dies in der irrigen Tendenz einer bestimmten liberalen europäischen Mitte, den Holocaust als „universellen“ Signifikanten zu behandeln. Wie ein Autor, den ich sehr schätze, es formulierte, ist das Holocaust-Gedenken zu einer „universellen“ oder „kosmopolitischen“ Erinnerung geworden. Aus dieser Perspektive wird das Ereignis zu einem Symbol, nicht für ein bestimmtes vergangenes Gräuel, sondern für jedwede systematischen Menschenrechtsverletzungen. Das Holocaust-Gedenken ist auch nicht mehr ausschließlich jenen nationalen Gruppen vorbehalten, die direkt in das historische Ereignis verwickelt waren – den Jüdinnen und Juden auf der einen Seite, den Deutschen sowie den Europäer:innen im Allgemeinen auf der anderen –, sondern es spielt eine entscheidende Rolle bei der Stärkung des Völkerrechts und der Menschenrechte, und wird zu einem "möglichen Symbol der globalen Solidarität“.
Auf den ersten Blick mag dies wie eine nette These erscheinen, die davon ausgeht, dass das Erinnern oder die Geschichte ein Aufruf zu universellen Bekenntnissen seien. Auf den zweiten Blick sollte klar werden, dass dies genau jene Art von These ist, die dem Universalismus seinen schlechten Ruf eingebracht hat – und die droht, den Universalismus beziehungsweise das Erinnern als ein koloniales Projekt erscheinen zu lassen. Die Art und Weise, in der des Holocausts gedacht wird, steht im Dienste ganz bestimmter nationaler Projekte. Daher schließt dieses „universelle“ Symbol diejenigen von der „globalen Solidarität“ aus, für die dieses Symbol alles andere als zugänglich ist. Da das Holocaust-Gedenken als untrennbar mit der nationalen Souveränität der
Jüdinnen und Juden verwoben interpretiert wird, dient es nicht der Förderung der internationalen Menschenrechte, insbesondere nicht derjenigen, deren Menschenrechte im Wege zu stehen scheinen.
Eines der wichtigsten Beispiele für diesen Trend ist die Haltung, die die deutschen Regierung gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) eingenommen hat. Die Institutionen des Völkerrechts und der internationalen Gerichtshöfe, die zur Verfolgung von Kriegsverbrechen befugt sind, wurde im Kontext der nationalsozialistischen Verbrechen geschaffen, und dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Deutschland, seine historische Verantwortung wahrnehmend, einer der Hauptgeldgeber des IStGH ist. Das deutsche Auswärtige Amt hat sich in der Vergangenheit bemüht, den IStGH gegen Einmischungsversuche der Trump-Administration zu verteidigen, und hat erklärt, dass „jeglicher Versuch, die Unabhängigkeit des Gerichtshofs zu untergraben, nicht geduldet werden wird.“ Als jedoch der Ankläger in Den Haag eine erste Untersuchung gegen Israel wegen mutmaßlich verübter Kriegsverbrechen in den besetzten Gebieten einleitete, behauptete Deutschland, das Gericht sei nicht zuständig: Israel sei keine Vertragspartei des Römischen Statuts, in dem das Mandat des Gerichts geregelt ist, und Palästina sei kein anerkannter Staat. Nachdem die Richter des IStGH dieser Auffassung widersprachen – und das aus gutem Grund: Sie verkündeten eine Entscheidung, wonach Palästina unabhängig von der Frage, ob es ein Staat ist oder nicht, als „Vertragspartei“ des Römischen Statuts anerkannt worden und das Gericht somit zuständig sei –, erklärte ein Sprecher des
Deutschen Auswärtigen Amtes: „Unsere Haltung in dieser Sache ist unverändert. Nach unserer Rechtsauffassung sind der Internationale Strafgerichtshof und seine Anklagebehörde aufgrund des Fehlens des völkerrechtlichen Elements der Staatlichkeit von Palästina nicht zuständig.“ Der damalige deutsche Außenminister wiederholte diese Aussage. Um zu verstehen, wie schwerwiegend sie ist, muss man die Frage der Zuständigkeit beiseitelassen. Hier geht es um die Autorität des Gerichtshofs, und diese anzuerkennen, bedeutet genau genommen, seine Entscheidung als hinreichend zu betrachten für eine Änderung der Rechtsposition Deutschlands – und damit die Souveränität Deutschlands einzuschränken. Die Behauptung der deutschen Regierung, das Gericht habe in palästinensischen Gebieten keine Jurisdiktion, obwohl die Richter entschieden hatten, dass dem sehr wohl so ist, war nicht nur eine Verneinung der Jurisdiktion des Gerichtshofs. Sie kam einer Leugnung der Autonomie und der Autorität des Gerichts gleich. Dies ist ein gutes Beispiel für den sehr starken Einfluss der bekannten, wenn auch inoffiziellen Staatsräson – sie kann nur inoffiziell sein, weil sie, wäre sie offiziell, mit der Verfassung in Konflikt geraten würde – und gibt uns einen Eindruck davon, wie es aussieht, wenn das auf der Geschichte gegründete Bekenntnis zu Europas Antwort auf seine Vergangenheit an seine Grenzen stößt und nicht nur nicht universell, sondern anti-universell wird. Deutschland, mit seinem Gerede über die Staatsräson, macht hier seine Souveränität geltend, und widersetzt sich der Autonomie des Gerichtshofs, um die jüdische Souveränität vor dessen Autorität zu schützen. Da Deutschland einer der Hauptfinanzierer des Gerichtshofs ist, stellt dies eine ernsthafte Bedrohung für diese Institution dar. Das geschah vor vier Jahren; die Auswirkungen dieser Infragestellung des Gerichtshofs und der Durchsetzungskraft des internationalen Rechts sehen wir jetzt. Hat der IStGH Autorität auf diesem Gebiet, wird gefragt, während Gaza dem Erdboden gleichgemacht und ausgehungert wird und israelische Kabinettsminister über den Einmarsch in Rafah sprechen, wobei sie „keine halbe Arbeit machen werden, sondern die vollständige Vernichtung“ wollen? (Wenn Sie mich fragen, ist es höchst bedauerlich, dass Varoufakis eine solche Aussage angeblich nicht verurteilen kann, weil er Europäer ist.)
Die folgende Frage stellt sich uns also, und sie ist dringlich geworden: Darf Europa die Antwort, die es auf die wichtigste Frage der modernen Welt gegeben hat, nur als seine eigene Antwort betrachten? Als eine, die hier gut sein mag, aber anderswo nicht nur falsch, sondern illegitim ist? Oder begeht man damit bereits Verrat an der Antwort Europas– und schreibt, indem man diese Diskussion den Feinden Europas überlässt, den ersten Satz der Geschichte ihres Verfalls?
Denken Sie an die Einwände gegen diesen Vortrag, hier auf dem Judenplatz. Ist der Gedanke, dass die Rettung Israels und Palästinas vor dem Absturz in eine noch schlimmere Dystopie einen Übergang der Region in Richtung einer europäischen Konstellation erfordert– nach dem gleichen Muster jener großen europäischen Antwort mit nicht vollständig souveränen Nationen, die sich einer (kon)föderativen gemeinsamen Verfassung für die gesamte Region anschließen –, illegitim? Ist diese föderative Idee, die jetzt notwendig ist, wenn wir Immanuel Kants Warnung, dass Friedensgespräche und Friedensverträge nicht zu Lügen verkommen dürfen – Lügen, die die Möglichkeit des Friedens selbst untergraben –, ernstnehmen wollen, unrechtmäßig? Wenn die europäische Antwort in diesem Fall auf solche Art und Weise delegitimiert wird, wie wirkt das auf Europa zurück? Wie wirkt sich das Zulassen der totalen Kriegslogik in Israel und Palästina auf Europas eigene jüdische, Europas eigene muslimische Bürger:innen aus? Überlässt man damit nicht der populistischen nationalistischen Rechten das Feld, die überall um uns herum auf dem Vormarsch ist und danach trachtet, die nationale Souveränität geltend zu machen, das Völkerrecht infrage zu stellen und eine auf ethnischer Zughörigkeit basierende Staatsbürgerschaft durchzusetzen?
Das also ist mein Appell an Europa: Besteht auf der Realität eurer Ideale. Aufgrund unserer historischen Verantwortung sind diese Ideale besonders wichtig, als kosmopolitische Ideale können sie letztlich aber nicht als von der historischen Verantwortung abhängig oder als durch diese begrenzt verstanden werden. In diesen, für die heutige Politik und das Denken dunklen Zeiten müssen wir die auf allen Seiten vorhandene Tendenz zurückweisen, die Ideale Europas durch ein sehr verantwortungsloses Verständnis der historischen Verantwortung zu untergraben. Nur so können wir unsere aus der Geschichte erwachsene Pflicht erfüllen und verhindern, dass sie zu einer nationalen Form mythischen Denkens verkommt.
Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Katharina Hasewend/Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)