Die Wiener Kongresse: Kulturkriege
Protokoll der Juryentscheide, 1. Juni 2025
Amina Aziz, Elisabeth Bronfen, Jan Fleischhauer, Monika Mokre
Fall 1: Meinungsfreiheit oder Verhetzung? Cancelling, Polarisierung und Redefreiheit im Angesicht des Krieges in Gaza
Leitfrage 1: Sind Genozid sowie versuchter Genozid völkerrechtlich zulässige Begriffe für das Vorgehen der israelischen Streitkräfte in Gaza oder ist schon der Gebrauch des Begriffs propagandistisch und antisemitisch?
Juryentscheid:
Wir haben uns entschlossen, diese Frage zu unterteilen:
- Sind „Genozid“ sowie versuchter Genozid zulässige Begriffe für das Vorgehen der israelischen Streitkräfte in Gaza?
Ergebnis:
2*nein
2*ja
Anmerkung zu einem „nein“: Das ist von einem internationalen Gerichtshof zu entscheiden. (Also die Begründung für ein Nein ist, dass der Gebrauch eine Entscheidung eines Gerichtshofs voraussetzt. Anm. RM)
Anmerkung zu einem „ja“: Der Begriff sollte sorgfältig verwendet werden.
- Ist schon der Gebrauch des Begriffs propagandistisch?
1*nein
3*ja
Anmerkung zum „nein“: Zusätzlich wäre zu fragen, ob die Vermeidung des Begriffs Genozid propagandistisch ist.
- Ist schon der Gebrauch des Begriffs antisemitisch?
3*nein
1*ja
Leitfrage 2:
Unterliegt das Sprechen über Israel, Palästina und dem Gazastreifen politischen Zwängen, ausgehend auch von staatlichen Stellen, die die Meinungsfreiheit, in grundrechtswidriger Weise einschränken?
Juryentscheid:
1*nein
3*ja
Anmerkung zu einem „ja“: Die Art, wie darüber geredet wird, wird vom Druck, der von staatlichen Stellen ausgeht, beeinflusst.
2b) Werden in Österreich pro-palästinentische Stimmen gesilenced mit dem Argument des Antisemitismus, um von eignen antisemitischen und fremdenfeindlichen Haltungen (vor allem aus rechts-populistischer und rechts-radikaler Seite) abzulenken?
Juryentscheid:
Zur gesamten Frage gab es zwei Enthaltungen wegen zu geringer Kenntnisse über die Situation in Österreich.
Zwei weitere Jurymitglieder haben die Frage gesplittet:
- Werden Stimmen gesilenced?
2*ja
- Um von eigenen antisemitischen und fremdenfeindlichen Haltungen abzulenken
2*nein
Anmerkung zu den „nein“: Diese Begründung gilt nur für einen kleinen Teil der Bemühungen um silencing.
Leitfrage 3:
Ist in Österreich und Deutschland (Täter:innen-Staaten) im Umgang mit Israel eine besondere Wachsamkeit gegenüber antisemitischen Schlagseiten von Kritik an Israels Regierungspolitik angezeigt, weswegen Stimmen aus Boykott-Kampagnen wie BDS und vergleichbaren Positionen jedenfalls in öffentlich geförderten Kunstinstitutionen nicht zu tolerieren sind?
Juryentscheid:
Wir haben uns entschlossen, diese Frage zu unterteilen:
- Ist in Österreich und Deutschland als Täter:innenländer eine besondere Wachsamkeit im Umgang mit Israel und gegenüber antisemitischen Schlagseiten von Kritik an Israels Regierungspolitik angezeigt?
4*ja
- Sollen Stimmen von Boykott-Kampagne wie BDS und vergleichbare Positionen jedenfalls in öffentlich geförderten Kunstinstitutionen keinen Platz haben?
3*nein
1* ja
Anmerkung zu zwei „nein“: Die Fälle müssen genau betrachtet und einzeln beurteilt werden.
Fall 2: Der “Fall” Ulrike Guérot - von Links gecancelt?
Leitfrage 1: Sind öffentlich geäußerte Meinungen von Professor:innen und wissenschaftlichem Fachpersonal als Dienstnehmer:innen einer Universität, vor allem wenn diese Meinungen eine erkennbare politische Position erkennen lassen, ein Kündigungs-und/oder Entlassungsgrund?
Juryentscheid:
4*nein
Anmerkung zu drei „nein“: Wenn die Position nicht menschenverachtend und/oder gewaltfördernd ist.
2. Leitfrage: Verwendete Ulrike Guérot – vorsätzlich oder fahrlässig – Fakten auf unrichtige Weise, um ihre politischen Positionen zu untermauern?
Juryentscheid:
4*ja
2b: Betrieb Ulrike Guérot pro-russische Propaganda?
Juryentscheid:
4*ja
3: Wurde Ulrike Guérot zu Unrecht öffentlich diffamiert, medial gecancelled und schließlich entlassen?
Juryentscheid:
3*nein
1*ja
Anmerkungen zu den drei „nein“:
Ein mediales Cancelling fand allgemein nicht statt.
Eine Mitverantwortung der Universitäten aufgrund des offensichtlich mangelhaften Berufungsverfahrens wird anerkannt, aber die Hauptverantwortung für eigene Publikationen liegt bei der Wissenschaftlerin. Da der beanstandete Text Teil der Sammelhabilitation war, wird auch der Vorwurf der absichtlichen Täuschung geteilt.
Fall 3: Anschläge auf die Kunstfreiheit - von rechts gecancelt
Leitfrage 1: Sind Entlassungen linker und liberaler Künstler:innen und Intendant:innen und deren Ersetzung durch staatsnahe, das Nationalbewusstsein stärkende Künstler:innen Eingriffe in die Kunstfreiheit?
Juryentscheid:
4*ja
Leitfrage 2: Hat der Staat aufgrund seiner Finanzierung von Kunst- und Kulturinstitutionen das Recht, an der Auswahl von Intendant:innen etc. mitzuwirken, weswegen der Wechsel in künstlerischen Leitungspositionen in Folge etwa eines Regierungswechsels legitim ist?
Juryentscheid:
3*nein
1*ja
Anmerkung zu einem „nein“: Diese staatlichen Aktivitäten sind verständlich, aber nicht legitim.
Leitfrage 3: Die Europäische Union verfügt in Sachen Kulturpolitik über keine Kompetenz, diese liegt im Zuständigkeitsbereich der einzelnen Mitgliedsstaaten. Ist ein „European Culture Freedom Act“ erforderlich, um Künstler:innen in den Mitgliedsländern gegen autoritäre Gefahren zu schützen?
Juryentscheid:
1*Enthaltung
3*ja
Anmerkung zu den „ja“: Ein European Culture Freedom Act ist ein richtiger Schritt, da Künstler:innen sich auf ihn berufen können; er bietet aber keinen wirklichen Schutz.