1. Die Zweite Wiederkunft. Oder: Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.
Diese Rede ist Teil einer Debatten-Tour, die Resistance Now!-Tour heißt. Nach der Veröffentlichung der beiden Offenen Briefe, von denen ich Ihnen erzählte – einer für das Slowakische Nationaltheater, der andere gegen die FPÖ – spürte ich das Bedürfnis, mich mit anderen Künstler:innen zu verbinden. Also konkret zu erfahren, mit welchen Angriffen sie zu kämpfen haben. Denn die Hilflosigkeit von uns allen hat mit genau einer Sache zu tun: dass wir unsere Kämpfe nicht verbinden, dass wir sie jeder für uns kämpfen, in heroischer Einsamkeit gewissermaßen. Wir brauchen aber, simpel gesagt, eine Internationale der Kämpfe. Das Thema dieses Weltkongresses lautet Embrace and Connect, und das ist genau das, wozu ich hier aufrufe: Wir brauchen, um den nationalen Realismus zu bekämpfen, einen internationalen Realismus.
Wie wir alle wissen, heißt über Kunst sprechen, über Geld zu sprechen. Ich erinnere mich, dass wir 2019 – das war, bevor ich nach Wien wechselte und noch Künstlerischer Leiter des NTGent war, etwa eine Autostunde von hier, so nah wie Bratislava von Wien – demonstrierten gegen die Budget-Kürzungen der flämischen Regierung, die damals (und übrigens immer noch) von der ebenfalls konservativen NVA bestimmt wurde. Der Streik, begleitet von zahlreichen Appellen, zeigte keine Wirkung. Als wir während Covid unser künstlerisches Programm für die nächsten fünf Jahre schrieben, taten wir das im Rahmen eines bereits gekürzten Kultur-Budgets. Der Prozess der Subventions-Vergabe glich, metaphorisch gesprochen, einer Essensverteilung nach einer Naturkatastrophe: Jede Institution, jede freie Company wurde in eine Gruppe eingeteilt, der wiederum ein viel zu kleiner Betrag zur Verfügung stand.
First come, first serve: In altbekannter neoliberaler Manier wurde das eigentliche Problem – nämlich eine viel zu geringe Fördermenge – in einen Konkurrenz-Konflikt übersetzt. Während wir sprechen, findet in den Niederlanden ein ähnlicher Prozess statt. Wie sie alle wissen, sind Kürzungen in der Kultur nichts anderes als der Beginn ihrer Zensur. Ich erinnere mich an die 80er Jahre, als die neoliberale Doktrin aufkam: Damals schien die Zusammenlegung von kulturellen Akteur:innen eine gute Idee. In Deutschland zum Beispiel wurden Mehrspartenhäuser gegründet, ein Prozess, der sich nach der Wende beschleunigte. Nach einiger Zeit jedoch zeigte sich eine Grenze: Weitere Verschlankung der künstlerischen Institutionen führte zu einer Zerstörung der Kunst selbst – ihrer grundsätzlichen Möglichkeit zum Experimentieren und zum Scheitern.
Ab den Nullerjahren wurden deshalb viele global Strukturen aufgebaut oder wieder aufgebaut. Ein internationales Touring-Netzwerk entstand, eine lebendige freie Szene, das, was der leider verstorbene Hans-Thies Lehmann das „Postdramatische Theater“ nannte: ein Theater, das dem Experiment verpflichtet war, dem internationalen Austausch, der Suche nach einer globalen Form – eine Art Zweite Moderne, dessen Kind ich selbst und mein sogenannter „globaler Realismus“ sind. Als der Neoliberalismus gegen Ende der 10er-Jahre, kurz vor Covid, erneut sein Haupt erhob, dachte ich: Warum? Es hat doch schon einmal nicht funktioniert? Bei den flämischen Budgetkürzungen, von denen ich sprach, wurde eine unabhängige Studie in Auftrag gegeben, die in allen Sektoren das Verhältnis von Investition und Ertrag untersuchte – der Kultursektor stand mit 8 Euro Gewinn bei 1 Euro Investition an der Spitze. Und ich muss Ihnen wohl nicht sagen, was mit 1 Euro geschieht, den man in die Armee investiert.
Als also die Budgetkürzungen wiederkamen, verstand ich: Diesmal ging es nicht um Geld, sondern um Politik. Es ging um die Verwandlung der Gesellschaft, um das Zerbrechen von Beziehungen – zwischen der unabhängigen Szene und den großen Häusern, zwischen den Genres, den Kontinenten, den Milieus – die wir gerade mühsam aufgebaut hatten. Letzte Woche machte die Resistance Now! Tour Halt in Stockholm, der Hauptstadt Schwedens: Gerade war der wichtigsten unabhängigen Kompanie des Landes, Konträr, die Förderung entzogen worden. Wie in Flandern vor ein paar Jahren oder aktuell in den Niederlanden verschwendete niemand auch nur einen Gedanken daran, es könne dabei tatsächlich um Budgeteinsparungen gehen. „Die wollen, dass wir verschwinden“, sagte mir Freja Hallberg, die Leiterin. Denn wie gesagt ist die Kultur in Europa der produktivste Sektor überhaupt.
Kurz gesagt, wir befinden uns in einem Zeitalter, das mit gewissen liberalen Illusionen abschließt – oder in dem sie einfach, wie das unabhängige Theater, verschwinden. Im Osten Europas ist der sogenannte Kahlschlag fast vollendet, hier im Westen herrscht die übliche atlantischen Verspätung, aber bis zum Ende des Jahrzehnts wird auch hier die Arbeit getan sein von der NVA in Belgien, der „Partei der Freiheit“ in den Niederlanden und wie sie alle heißen. Mein ungarischer Freund Kornél Mundruczó hat im vergangenen Frühjahr das letzte Stück seiner Theater-Kompanie – Parallax – in Wien inszeniert, weil es in Budapest nicht mehr möglich war. Präsident Orbán hat seine Arbeit nicht verboten wie in den Tagen des Kommunismus – es wurden ihr einfach alle finanziellen Unterstützungen entzogen. Wir leben in einer Zeit, in der wir eine Idee nicht bekämpfen, indem wir sie kritisieren, sondern indem wir ihr finanziell den Boden entziehen.
Lua Casella und ich sind, wenn ich mich nicht irre, im gleichen Jahr geboren, und ich denke, die meisten hier Anwesenden gehören auch zu unserer, der sogenannt mittleren Generation, die man in der Soziologie die „Generation X“ nennt: die „goldene Generation“ des Neoliberalismus. Um bei Europa zu bleiben: Die oft verspottete Generation der „Boomer“, die uns vorausging, brachte im Osten den Kommunismus zu Fall und erkämpfte im Westen die Bürgerrechte. Meine Mutter, 1950 geboren und damit ein typischer Boomer, konnte drei Jahre ihres Lebens nicht wählen, da das Frauenstimmrecht in meinem Heimatland, der Schweiz, erst 1971 eingeführt wurde. Die Legalisierung der Homosexualität, der Abtreibung usw. fand in den selben Jahren statt. Ich spreche hier also über sehr junge Ereignisse, die aber trotzdem für mich, der 1977 geboren wurde, quasi zur Naturgeschichte der liberalen Demokratie gehören.
Als ich in den späten 90er Jahren, mit Anfang 20 begann, in Deutschland, dann in Europa und später in der ganzen Welt Theater zu machen, schien sich Fukuyamas Theorie vom Ende der Geschichte zu bestätigen. Die liberale Demokratie, die soziale Marktwirtschaft und gewisse damit verknüpfte Ideale – etwa die Idee der transnationalen Zusammenarbeit, des freien Personenverkehrs, der Dekolonialisierung, überhaupt die Idee eines vielstimmigen Welttheaters, institutionalisiert auf grossen Festivals und in eigens eingerichteten Studiengängen – triumphierten. Es war die Zeit, als wir alle damit begannen, in „Projekten“ zu denken: die Zukunft war offen, formbar. Form war alles, alles Politische war erledigt. Denn Politik roch nach Vergangenheit, kurz: Politik roch nach der „Boomer“-Generation, der Generation unserer Eltern. Ich würde sogar sagen: Politik roch damals in Europa im schlimmsten Fall nach Unfreiheit, im besten Fall nach Schule.
Etwas philosophischer könnte man sagen: Europa war in jenen Jahren, in denen die Revolutionen von 1989 noch nah waren, stolz darauf, die universelle Utopie der Aufklärung, die Idee Europas als des Kontinents der Demokratie und der Beteiligung aller endlich zu realisieren. Und was wirklich beeindruckend war: Europas Schuld als doppelter Täterkontinent – nämlich des Kolonialismus und des Holocaust – wurde in jenen Jahren ernsthaft bearbeitet, sowohl gesellschaftlich wie künstlerisch. Es waren, um Hegel zu zitieren, dialektische Jahre: Was man tat, kritisierte man zugleich auch – vor allem die Institutionen – und man machte nicht Theater, sondern Metatheater. Es wurden einige europäische idées fixes zu Grabe getragen: die Idee der Heiligkeit des Kanons, die Idee des künstlerischen Genies, die Idee des Exzesses, die Idee der Verbesserung der Welt durch die Kunst und sofort. Alles wurde dekonstruiert, der Text, der Autor, das Tragische, die Sprache, die Genres, die Dramatik. Es war ein herrlicher Prozess der Befreiung.
Ich weiß nicht genau, wann all dies zu bröckeln begann. Aus Postdramatik wurde wieder Dramatik, die globale Kultur verwandelte sich unmerklich wieder in nationale Kulturen, angereichert mit einigen Prisen Exotismus. Sicherlich kennen Sie die Geschichte des Frosches, der in einem Kochtopf voller Wasser sitzt: Er merkt nicht, wie es heißer wird, weil die Temperatur ja immer nur Grad für Grad ansteigt. Was mich persönlich angeht, hielt ich die ersten Anzeichen des neuen Nationalismus zuerst für Rückzugsgefechte einer ohnehin zum Tode verurteilten Vergangenheit: etwa so, wie ein betrunkener Gast, der aus dem Nachtklub geworfen wird, laut herumschreit und sich beklagt.
Zudem war ich, wie ich gestehen muss, unterdessen einigermaßen erfolgreich, und deshalb geschützt in dem, was man „Bubble“ nennt: einem Netzwerk von Festivals und Produktionshäusern, in dem die aufklärerischen Werte, von denen ich gerade sprach, nicht nur bewahrt, sondern umso aggressiver verteidigt wurden, je mehr sie rund herum vernichtet wurden. Während die Homosexuellen-Rechte dekonstruiert und das Recht auf Abtreibung aus verschiedenen Verfassungen verschwand, während Tausende von Menschen an den Grenzen der „Festung Europa“ starben, machte ich aktivistisches Theater und dozierte in allen möglichen akademischen Safe Spaces über eine grenzenlose, diverse und herrschaftsfreie Kunst. Ich brauchte fast 10 Jahre, um zu verstehen, dass die Geschichte tatsächlich rückwärts lief. Und dass wir diesen Kampf vermutlich verlieren würden.
„Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“: Als Dante, geleitet von Vergil, zu Beginn der Divina Commedia die Unterwelt betritt, prangt über dem Tor dieser berühmte Leitspruch. Dante hatte, wie Sie wissen, diesen Horror-Trip zu den Zombies der Unterwelt nicht gebucht. Er hatte sich im Wald verirrt – und deshalb war jeder Weg ins Freie der richtige, auch wenn er ins Reich der Toten führte. Und so bitte ich auch Sie: Lassen Sie alle Hoffnungen fahren. Denn dieser Kampf, den wir führen, ist politisch, wie er politischer nicht sein könnte. Die Gläubigen hier wissen, was die Zweite Wiederkunft des Messias bedeutet: die Apokalypse, das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Und das gleiche bedeutet die Zweite Wiederkunft des Neoliberalismus für die Kultur: Es geht nicht um ein Projekt mehr oder weniger, es geht um die Art und Weise, wie wir leben wollen.