Die Wiener Festwochen | Freie Republik Wien wollen Canceling grundsätzlich vermeiden. Sie verpflichten sich zu einem transparenten und konstruktiven Umgang mit Kontroversen und Cancel-Aufforderungen. Das hier vorliegende Entscheidungsprozedere umfasst die Einrichtung einer Resonanzgruppe und eines Beratungsgremiums und legt Regeln für die Entscheidungsfindung und die Kommunikation fest.
Der Rat der Republik veröffentlichte im Juni 2024 die „Wiener Erklärung“, die Verfassung der Wiener Festwochen | Freie Republik Wien, bestehend aus zehn Regeln. Regel 6 lautet:
„Auseinandersetzung statt Hinterzimmerdiplomatie. Die Freie Republik Wien entwickelt klare Abläufe und öffentliche Formate, die im Fall von Kontroversen und dem Ruf nach der Ausladung von Gäst:innen oder dem Canceln von künstlerischen Projekten zum Einsatz kommen.“
Zur Umsetzung dieser Regel wurde Ende 2024 eine Arbeitsgruppe gebildet, die die Aufgabe hatte, einen transparenten Entscheidungsprozess für Situationen zu entwickeln, in denen gefordert wird, Personen auszuladen, bzw. Programmteile zu streichen, oder in denen eingeladene Künstler:innen ihre Teilnahme vom Ausladen anderer Künstler:innen abhängig machen.
Monika Mokre, Leila Offinassinga und Philipp Rauch als Vertreter:innen des Rats der Republik sowie Leonora Scheib, Joachim Kapuy und Judith Staudinger aus dem Team der Wiener Festwochen bildeten die Arbeitsgruppe. Als Expertin wurde Barbara Staudinger, die Leiterin des Jüdischen Museum Wien, für eine Beratung hinzugezogen.
Cancelling-Aufforderungen werden mit zunehmender Häufigkeit von unterschiedlichen Seiten an Institutionen herangetragen, um öffentliche Aufmerksamkeit für bestimmte Positionen, Personen oder Personengruppen zu verhindern.
Die Wiener Festwochen | Freie Republik Wien verstehen sich als sowohl ästhetisch als auch politisch radikal; sie initiieren öffentliche Debatten und nehmen an ihnen mit klaren Positionen teil. Vielfältige Perspektiven sollen den Blick auf unterschiedliche künstlerische und soziale Praktiken eröffnen.
Der Ruf nach Absagen oder Ausladungen stellt für die Festwochen daher eine besondere Herausforderung dar. Die klare Ablehnung hegemonialer und oft unsichtbarer Formen des Ausschlusses soll nicht zu neuen Formen der Exklusion führen, egal unter welchen politischen Vorzeichen sie gefordert werden. Zugleich wollen die Festwochen einen Raum eröffnen, in dem
Menschen unterschiedlicher Herkunft, Klasse, unterschiedlichen Geschlechts und mit vielfältigen Bedürfnissen sich entfalten und darstellen können – als Teil der Produktion oder auch als Teil des Publikums. Dies erfordert eine Sensibilität, die es erforderlich machen kann, auf (implizit oder explizit) ausgrenzende Positionen zu verzichten.
Auch agieren die Festwochen unter Rahmenbedingungen, die sie nur begrenzt mitgestalten können. Dazu gehören insbesondere gesetzliche Bestimmungen, aber auch politische Vorgaben sowie Bedingungen der Finanzierung und der Kooperation mit Partner:innen. Zusätzlich sind vertragliche Verpflichtungen zu bedenken, die Absagen finanziell problematisch machen können. Auch wenn ästhetische, ethische und politische Gründe die Einladungs- (und eventuell Ausladungs-)Praxis der Festwochen bestimmen, müssen pragmatische Überlegungen miteinbezogen werden, nicht zuletzt, da sie für das Gesamtprogramm des Festivals oder sogar sein Weiterbestehen relevant sein können.
Auf diesen Überlegungen beruht die hier vorgeschlagene Vorgangsweise. Sie geht davon aus, dass Cancelling grundsätzlich zu vermeiden ist und nur stattfinden soll, wenn alle anderen Möglichkeiten des Umgangs mit einem Konflikt ausgeschöpft oder aussichtslos erscheinen.
Mögliche Alternativen zu Absagen sind interne Versuche der Konfliktregelung, öffentliche Auseinandersetzungen, die zu einer Konfrontation von Positionen führen, statt eine von ihnen zum Schweigen zu bringen, sowie eventuell auch Anpassungen statt Streichungen von Programmteilen.
Die Entscheidung, Künstler:innen auszuladen oder Programmteile zu streichen, wird in erster Linie von den Grundsätzen und Zielen der Festwochen geleitet. In zweiter Linie geht es um die Rahmenbedingungen des Festivals. Hier stellen Gesetzesübertretungen mit Sicherheit eine rote Linie dar, deren Überschreitung von den Festwochen nicht zugelassen werden kann. Es sind aber auch potenzielle Schäden für das Festival und seine Zukunft in die Überlegungen einzubeziehen. Derlei Überlegungen betreffen insofern neue bzw. aktualisierte Kenntnisstände nach Programmschluss, die eingeladene Künstler:innen oder Programmteile betreffen.
Jede Aufforderung zum Cancelling ist sorgfältig zu prüfen; das Prozedere dieser Prüfung und deren Ergebnis sind transparent darzustellen. Für den Ablauf dieses Prozesses wird hier ein Vorschlag präsentiert.
Prozedere
Stufe 1: Die Resonanzgruppe wird aktiviert
Die Resonanzgruppe setzt sich aus der Intendanz, der Geschäftsführung, dem:der Pressesprecher:in und dem:der verantwortlichen Dramaturgen:in zusammen.
Bei jeder Aufforderung, eine:n Künstler:in oder einen Programmteil aus dem Programm abzusetzen oder der Androhung des Rückzugs von Künstler:innen, wenn nicht andere Künstler:innen oder Programmteile gecancelt werden, werden unverzüglich alle Mitglieder der Resonanzgruppe informiert.
Die Resonanzgruppe diskutiert in der Folge den weiteren Verlauf. Dabei obliegt die Entscheidung über weitere Schritte der Intendanz und Geschäftsführung; die Dramaturgie berät aus künstlerischer Sicht und in Hinblick auf die Wirkung auf künstlerische Stakeholder; der:die Pressesprecher:in berät in Hinblick auf die prognostizierte Außenwirkung. Die Resonanzgruppe wägt gemeinsam die Auswirkungen der Entscheidung ab.
Die Resonanzgruppe kann jederzeit entscheiden, sich noch um Personen zu erweitern, die für die Bewältigung der jeweiligen Kontroverse als erforderlich bzw. hilfreich erachtet werden.
Die Beratungen der Resonanzgruppe orientieren sich an Fragestellungen zum konkreten Fall und ordnen den Fall auf einer Eskalationstreppe ein, um die Erfolgschancen unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten einzuschätzen.
Fragestellungen:
- Von welcher Seite kommt die Aufforderung, was ist die Motivation?
- Ist ein Dialog möglich?
- Was ist die ethische Dimension?
- Was ist die Dimension der Schadensbegrenzung / Legitimation?
- Wie öffentlich ist die Situation, bzw. welche öffentliche Wirkung ist zu erwarten? Kann, bzw. sollte eine öffentliche Debatte vermieden werden?
- Sind aufgrund des Cancelling, bzw. einer Ablehnung der Cancelling-Aufforderung interne Spannungen/Konflikte zu erwarten?
- Findet eine Instrumentalisierung für politische Ziele statt?
- Gibt es medialen oder politischen Druck?
- Wird Druck auf die Entscheidungsträger:innen ausgeübt?
- Sind wichtige Stakeholder involviert?
- Welche finanziellen und juristischen Konsequenzen würde ein Cancelling, bzw. eine Ablehnung der Cancelling-Aufforderung nach sich ziehen?
- Sind Kooperationsparter:innen betroffen und müssen involviert werden?
Eskalationstreppe:
- Dialogbereitschaft vorhanden
- Konflikt eingrenzbar
- Heftige Reaktionen werden prognostiziert oder sind bereits vorhanden (extern oder intern)
- Auswirkungen auf weitere Künstler:innen und/oder Programmteile befürchtet
- Die Intendanz wird unter Druck gesetzt
- Die Institution als Ganze wird unter Druck gesetzt
- Künstlerisches Gesamtprogramm gefährdet
- Zukunft der Festwochen gefährdet
Je weiter der Konflikt auf der Eskalationstreppe voranschreitet, desto sinnvoller erscheint es, das Beratungsgremiums zu aktivieren.
Wird das Beratungsgremium aktiviert, ist auch der Aufsichtsrat zu informieren.
Kommunikation
Die Intendanz und die Geschäftsführung entscheiden über den Verlauf der Kommunikation. Im Regelfall wird auf der Ebene kommuniziert, auf der die Festwochen angesprochen werden (persönlich, bestimmte Medien). Wenn es zu keiner unmittelbaren Entscheidung kommt, wird das weitere Prozedere kommuniziert.
Ist jemand aus der Resonanzgruppe nicht unmittelbar responsiv, wird der:die Stellvertreter:in aktiviert.
Alle Beratungen der Resonanzgruppe werden protokolliert, um das Prozedere nachvollziehbar zu machen.
Stufe 2: Das Beratungsgremium wird aktiviert
Entscheidet sich die Resonanzgruppe, das Beratungsgremium hinzuzuziehen, erfolgt dessen Aktivierung des Beratungsgremiums unverzüglich; die Auswahl von Personen orientiert sich am konkreten Fall und entspricht den folgenden Funktionen:
- Mitglieder des Programmbeirats (Der Programmbereit besteht aus lokalen und internationalen Expert:innen und erfüllt damit die erste Regel der Wiener Erklärung.)
- Ratsmitglieder aus der Cancel Culture Arbeitsgruppe (bei Verhinderung: andere Ratsmitglieder)
- Externe Expert:innen (wenn dies der Resonanzgruppe und/oder dem Beratungsgremium sinnvoll erscheint)
Das Beratungsgremium ist ab einer Größe von drei Personen handlungsfähig. Die Mitglieder sind zur Verschwiegenheit verpflichtet.
Die Resonanzgruppe formuliert klare Fragestellungen an das Gremium und informiert über das Mandat und das Prozedere. Auf Aufforderung werden dem Beratungsgremium alle Informationen übermittelt, die diesem relevant erscheinen (etwa Kontext im Gesamtprogramm, vertragliche Situation, rechtliche Relevanz).
Das Beratungsgremium formuliert per Mehrheitsentscheidung eine Empfehlung an die Intendanz und Geschäftsführung (voice, not vote). Die Beantwortung der Fragen, mit denen eine Empfehlung einhergeht, erfolgt schriftlich; auf Wunsch kann sie auch eine Minderheitenposition enthalten. Im Regelfall wird die Empfehlung des Beratungsgremiums für die Kommunikation der Entscheidung herangezogen.
Nach Zusammenstellung des Beratungsgremiums hat dieses 24 Stunden Zeit, die Fragen zu beantworten. Alle Beratungen des Beratungsgremiums werden protokolliert, um das Prozedere nachvollziehbar zu machen.
Stufe 3: Entscheidungsfindung
Die Empfehlungen des Beratungsgremiums werden in der Resonanzgruppe diskutiert. Alle Entscheidungen (über eine mögliche Ausladung und zur Öffentlichkeitsarbeit) werden von der Intendanz und der Geschäftsführung getroffen.
Kommunikation
Die Kommunikation der Entscheidung erfolgt spätestens 12 Stunden nach Eintreffen der Empfehlung des Beratungsgremiums.
Wenn eine Information bereits vor der Entscheidung nötig war und der Resonanzprozess angekündigt wurde, wird die Entscheidung den gleichen Stakeholdern mitgeteilt und begründet.
Im Falle der Einbeziehung des Beratungsgremiums wird die Argumentation des Beratungsgremiums in diese Mitteilung einbezogen. Falls die Entscheidung der Intendanz und Geschäftsführung den Empfehlungen des Beratungsgremiums nicht folgt, wird dies begründet.
Kommunikationsstrategie
Je nach der Öffentlichkeitswirksamkeit des Konflikts wird Kommunikation mit unterschiedlichen Stakeholdern notwendig. Die Frage, an wen sich die Kommunikation an welchem Punkt richten soll, orientiert sich dabei an den folgenden Überlegungen:
- Cancelling-Aufforderung erfolgte nicht öffentlich: Sofortige Reaktion an diejenigen, von denen die Aufforderung ausging: Entweder umgehende, begründete Ablehnung oder Beginn von Dialog; Information an alle, die die Cancelling-Aufforderung erhalten haben.
- Cancelling- Aufforderung erfolgte öffentlich: Sofortige öffentliche Reaktion auf gleicher Ebene: Entweder umgehende, begründete Ablehnung oder Ankündigung des Resonanzprozesses; eventuell gesonderte Information an Team, Eigentümerin (Stadt Wien), weitere Fördergeber:innen, Kooperationspartner:innen und Sponsor:innen.
- Interner Konflikt entsteht: Kommunikation der Intendanz mit dem Team, Klarstellung der Verantwortlichkeiten und des Einflusses aller am Konflikt Beteiligten.
- Öffentlicher Konflikt entsteht: Information an Team, Eigentümerin (Stadt Wien), weitere Fördergeber:innen, Kooperationspartner:innen und Sponsor:innen. Danach öffentliche Reaktion (zum Resonanzprozess oder der Entscheidung).
Die Resonanzgruppe unterstützt die Intendanz und die Geschäftsführung laufend im Kommunikationsprozess. Insbesondere sind dabei die folgenden Punkte zu beachten:
- Rollen im Kommunikationsprozess: Wer führt den Dialog mit den Menschen, die den Konflikt schüren? Wer ist die Kontaktperson für die- oder denjenigen, deren Ausladung gefordert wird und betreut diese:n?
- Fragen der Öffentlichkeitsarbeit: Wie und wann werden Debatten und Überlegungen öffentlich gemacht? In welcher Form und über welche Kanäle wird die Entscheidung kommuniziert?
- Interne Kommunikation: Die Resonanzgruppe hat eine Informationsschuld den Mitarbeiter:innen gegenüber. Grundlegende Überlegungen und implementierte Prozesse werden transparent kommuniziert, um Sprachfähigkeit herzustellen.
Zeitplan
Alle Schritte werden unverzüglich gesetzt.
Die Resonanzgruppe koordiniert sich unverzüglich nach Eintreffen der Cancel-Aufforderung.
Ist jemand aus der Resonanz-Gruppe nicht unmittelbar responsiv, wird der:die Stellvertreter:in aktiviert. Nach Zusammenstellung des Beratungsgremiums hat dieses 24 Stunden Zeit, die Fragen zu beantworten. Spätestens weitere 12 Stunden später erfolgt die Kommunikation der Entscheidung. So ist sichergestellt, dass innerhalb von zwei Tagen nach der Cancel-Aufforderung eine Reaktion erfolgen kann.