Klärung im Konflikt um Konzerte bei den Wiener Festwochen: Das von Oksana Lyniv dirigierte Kaddish Requiem "Babyn Jar" wird wie geplant am 2. Juni im Wiener Konzerthaus aufgeführt. Das unter dem Dirigat von Teodor Currentzis angekündigte War Requiem von Benjamin Britten am 12. Juni im Burgtheater wird abgesagt. Für die Wiener Aufführung des Kaddish Requiem wird zusätzlich ein aktuelles zeitgenössisches ukrainisches Stück komponiert und aufgeführt.
Musik und ihre politischen und moralischen Dimensionen spielen bei den Festwochen 2024 eine tragende Rolle. Festwochen Intendant Milo Rau dazu: „Wir begrüßen die engagierten und auch kritischen Nachfragen, die die Ankündigung von zwei Konzerten, die sich mit Krieg und Völkermord ebenso auseinandersetzen wie mit Verständigung und Versöhnung, vorab ausgelöst haben: Kaddish Requiem „Babyn Jar“, unter der Leitung der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv gemeinsam mit dem Kyiv Symphony Orchestra, und War Requiem, unter der Leitung des griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis mit dem SWR Symphonieorchester."
Mit den aufeinander folgenden, aber künstlerisch völlig voneinander unabhängigen Aufführungen geleitet von Lyniv (2. Juni, Wiener Konzerthaus) und Currentzis (12. Juni, Burgtheater), die beide seit dem Beginn des Angriffskriegs der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine zwangsläufig als Repräsentant:innen ihres jeweiligen Landes wahrgenommen werden, sollte die Frage nach der Verantwortung und nach den Grenzen der Kunst als utopischem Raum bei den heurigen Festwochen thematisiert werden, auch im Rahmen von parallel stattfindenden Diskussionsveranstaltungen.
In den Gesprächen der letzten Tage hat sich herauskristallisiert, dass eine Präsentation beider Konzerte im Rahmen der Wiener Festwochen aktuell nicht machbar ist. Wie an verschiedener Stelle von Intendant Milo Rau betont, stellt das Kaddish Requiem eine zentrale Position im Programm der Festwochen 2024 dar, an der er festhalten möchte. Nach Rücksprache mit dem SWR Symphonieorchester haben wir uns daher dazu entschieden, das War Requiem unter der Leitung von Teodor Currentzis nicht zu präsentieren. Das Kaddish Requiem findet wie geplant am 2. Juni im Wiener Konzerthaus statt.
Intendant Milo Rau: „Unsere Entscheidung, am Kaddish Requiem festzuhalten, ist eindeutig und wir freuen uns auf den Besuch von Oksana Lyniv und des Kyiv Symphony Orchestra in Wien. So sehr wir die spannungsvolle Gegenüberstellung der beiden Werke im Rahmen des Programms der Wiener Festwochen 2024, das bewusst politische und gesellschaftliche Frontstellungen in vielen künstlerischen Positionen befragt, begrüßt hätten: es war für die beteiligten ukrainischen Künstler:innen letztlich nicht mehr realisierbar und wir respektieren Lynivs Wunsch, aktuell nicht in einen inhaltlichen Kontext mit Currentzis gestellt zu werden. Leider war dadurch unsere Entscheidung für die Absage des geplanten Konzerts unter dem Dirigat von Teodor Currentzis, den wir als Künstler sehr schätzen, alternativlos. Wir wünschen dem SWR Symphonieorchester und Teodor Currentzis auf der geplanten Tour mit dem War Requiem durch Deutschland viel Erfolg. Die Diskussionsbeiträge der letzten Tage sehen wir als Beginn einer herausfordernden, aber notwendigen Debatte, die wir im Rahmen der Wiener Festwochen 2024 an vielen Punkten wie geplant weiterführen werden. Aber entscheidend sind letztlich nicht unsere kuratorischen Absichten, sondern dass sich alle Künstler:innen mit ihren Arbeiten bei uns wohlfühlen.“
Oksana Lyniv dazu: „Wir sind froh, dass die Wiener Festwochen eine Lösung gefunden haben und freuen uns sehr, das Kaddish Requiem „Babyn Jar“ schlussendlich doch in Wien aufzuführen. Alle Beteiligten freuen sich sehr auf dieses besondere Konzert am 2. Juni im Wiener Konzerthaus.“ Für die Wiener Aufführung des Kaddish Requiem wird zusätzlich ein aktuelles zeitgenössisches ukrainisches Stück von einem Schüler des Kaddish Requiem „Babyn Jar“-Komponisten Yevhen Stankovich komponiert werden.
SWR Programmdirektorin Anke Mai (Kultur, Wissen und Junge Formate) zur Absage: „Ich bedauere sehr, dass das Konzert des SWR Symphonieorchesters bei den diesjährigen Wiener Festwochen nun von Seiten der Festivalleitung abgesagt worden ist. Gleichwohl habe ich Verständnis dafür, dass sich Oksana Lyniv und die Mitglieder des Kyiv Symphony Orchestra ein öffentliches Bekenntnis von Teodor Currentzis gegen den russischen Angriffskrieg gewünscht hätten. Mit Rücksicht auf die Konsequenzen, die ein solches Bekenntnis für Currentzis in Russland mit sich brächte, haben wir dies aber nie von ihm verlangt. Und mit den Aufführungen des War Requiem von Benjamin Britten im Juni dieses Jahres senden das SWR Symphonieorchester und Teodor Currentzis eine Botschaft, die nicht missverstanden werden kann. Diese Botschaft hätten gerne alle Beteiligten auch nach Wien gebracht. Gleichwohl akzeptieren wir die Entscheidung der Wiener Festwochen und hoffen auf ein Wiedersehen in friedvolleren Zeiten.“
Benjamin Brittens Komposition War Requiem op. 66 ist ein mahnender Protest für den Frieden und gegen jede Form von Unmenschlichkeit. 1962 in Erinnerung an den Luftangriff Nazi-Deutschlands auf das englische Coventry uraufgeführt, gilt es bis heute als eines der beeindruckendsten und bewegendsten musikalischen Werke der Versöhnung. Der kompositorische Aufbau wurde als „geniale Eingebung“ beschrieben: lateinische Texte der christlichen Totenmesse stehen im Wechsel mit Gedichten über „das Leid des Krieges“ des Briten Wilfred Owen, der zwei Wochen vor Ende des Ersten Weltkriegs starb.