Zum Auftakt jedes Wiener Prozess-Wochenendes werden je zwei Personen des öffentlichen Lebens in der Box der Wahrheit befragt. Angeschlossen an einen Lügendetektor werden sie in 30-minütigen Sessions öffentlich verhört und moralische wie politische Konstellationen untersucht. Ausgehend von den Lebensgeschichten, Erfahrungen und Entscheidungen der prominenten Teilnehmer:innen wird die Box der Wahrheit zum Ort politischer Widersprüche und ethischer Dilemmata.
Klimakleber:innen, propalästinensische Aktivist:innen und nicht zuletzt die Wiener Festwochen selbst: In drei sehr unterschiedlichen Fällen konfrontiert uns der letzte der drei Wiener Prozesse mit der Heuchelei der Gutmeinenden. Zum Auftakt wird in der Box der Wahrheit gefragt: Wie radikal dürfen bzw. müssten derzeit die künstlerischen und aktivistischen Mittel sein, um einem an vielen Fronten ausgerufenen Not- und Ausnahmezustand gerecht zu werden? Welche Aktionsformen sind legitim, auch wenn sie illegal sein mögen? Heiligt der Zweck denn wirklich die Mittel?
Afra Porsche, geboren 1998, ist federführend bei der Letzten Generation Österreich aktiv. Wie viele ihrer Generation ist sie mit der Besorgnis über das Klima und unsere Zukunft, auf der Erde, aufgewachsen. Sie studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Seit 2019 geht sie mit vielen anderen auf die Straße und protestiert laut für eine nachhaltig lebenswerte Welt. In ihrem Erasmusjahr in Norwegen, 2021, ist sie zu einer Partnerorganisation der Letzten Generation gekommen und kämpft seitdem friedlich mit dem Mittel des zivilen Ungehorsams gegen die lebensfeindliche Klimapolitik europäischer Staaten. Seit Sommer 2023 ist sie bei der Letzten Generation Österreich. Diese setzt sich unter anderem mit Straßenblockaden und Eventunterbrechungen für eine Verankerung von Klimaschutz in der Verfassung ein. Von den einen als „Klimaterroristen“ abgetan und delegitimiert sehen andere das Anliegen als berechtigt und stellen sich hinter die Bewegung. Gegen Porsche und andere Mitglieder der Letzten Generation laufen Ermittlungen wegen des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Nichtsdestotrotz investiert sie fast ihre gesamte Zeit in Arbeit in und für die Bewegung und kämpft gemeinsam mit anderen Anhänger:innen weiter für Klimagerechtigkeit.
Milo Rau, geboren 1977 in Bern, ist Regisseur, Autor und Dozent und war Intendant des NTGent (Belgien). Seit 1. Juli 2023 ist Milo Rau Intendant der Wiener Festwochen. Rau studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Berlin und Zürich u.a. bei Pierre Bourdieu und Tzvetan Todorov. Während manche Kritiker ihn als „einflussreichsten“, „interessantesten“ oder „ambitioniertesten Künstler unserer Zeit“ feiern, ist er für die Gegenseite nur ein „linker Spaßvogel“, ein „Nebelbombenzünder“ und „billiger Provokateur“, der in seinen Inszenierungen gesellschaftliche und politische Missstände als Ausgangspunkt für die eigene Selbstvermarktung nutze. Seit 2002 veröffentlichte Rau über 50 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen. Seine Theaterproduktionen waren bei den großen internationalen Festivals zu sehen und tourten durch über 30 Länder weltweit. Mit dem Fünf-Jahres-Konzept der Freien Republik Wien, einer Kunstrepublik mit eignen Institutionen wie beispielsweise einem Rat, der aus internationalen Größen und Bürger:innen der Stadt Wien besteht, trat Rau seine Intendanz bei den Wiener Festwochen an. Auch hier spaltet er das Feuilleton: Während zuletzt etwa „Die Welt“ über das Festival befand, hier werde derzeit „das Spannendste, was Theater gerade zu bieten hat“, gezeigt, sah die Wiener Stadtzeitung „Falter“ nur einen „Aufruhr im Champagnerglas“. „Der Standard“ schrieb: „Demokratiepolitischer Mummenschanz“.
Verhör, Moderation Bibiana Beglau Dramaturgie Claus Philipp
Ein Projekt der Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
Außerhalb der Performance Box der Wahrheit wird der Glascontainer vor dem MQ zum Friedhof der Republik gestaltet durch die Akademie der Bildenden Künste.