Zur Aufgabe von Kulturinstitutionen in kriegerischen Zeiten
Wie können wir in einem Zeitalter verhärteter Fronten allen Seiten, Meinungen, Erfahrungen Raum geben? Wie schaffen wir es, einander zuzuhören und auch unangenehme Wahrheiten zu diskutieren - gerade bei umstrittenen Themen wie dem Gaza-Krieg? Und was ist die Rolle von Kulturinstitutionen wie den Wiener Festwochen dabei? In Auseinandersetzung mit den zahlreichen Reaktionen, die uns seit der Publikation von Milo Raus Brief an meine Freund:innen erreicht haben - deren prominenteste sicher die „Absage“ eines Dutzends österreichischer Kulturschaffender ist - hat der Intendant der Wiener Festwochen folgenden zweiten Brief geschrieben. „Denn es ist vielleicht unser Auftrag als Kulturschaffende“, so Rau, „kein Lager zu wählen, sondern alle Seiten zu befragen und zu hinterfragen - nicht zuletzt die eigene."
Liebe Unterzeichner:innen der „Absage“,
seit ich vorletzte Woche, noch vor dem aktuellen Friedensschluss einen „Brief an meine Freund:innen“ schrieb, der in 15 Sprachen und Ländern erschienen ist, haben mich viele Antworten aus ganz Europa erreicht. Es war sehr viel Zustimmung dabei, aber auch viel Ablehnung, viel Kritik, viele Nachfragen. Den Leser:innen aus dem nicht-deutschsprachigen Europa war mein Brief, um einen Kritiker zu zitieren: „zu wenig und zu spät“. Das zentrale Statement „Menschlichkeit hat nur eine Seite“ und der Aufruf, an der Seite der israelischen genauso wie der palästinensischen Bevölkerung zu stehen, um den Krieg endlich zu beenden, wurde von vielen Kommentator:innen – etwa in Italien oder Frankreich – als eine Art opportunistischer Verrat an den 60.000 Toten im Gaza-Streifen gelesen.
Im deutschsprachigen Europa war es umgekehrt: Hier wurde – etwa in den Antworten, die die beiden Theatermacher Alexander Karschnia oder Amit Epstein an mich schrieben – mein Hinweis auf den jüngsten UNO-Bericht von Mitte September, der das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza als „Genozid mit Vorsatz“ bezeichnet, als einseitige Parteinahme für Palästina verstanden. Das Schweigen, das ich in den deutschsprachigen Kulturinstitutionen auszumachen wähnte, sahen sie auch, aber eher in Bezug auf den 7. Oktober. Sowohl Amit wie Alexander verwiesen auf die Notwendigkeit, die Ängste jüdischer Menschen in Europa nicht aus den Augen zu verlieren, bei aller Betroffenheit über das Leiden der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen.
Sowohl Alexanders wie Amits Briefe hätte ich sofort unterschrieben, sie schienen mir meinen Überlegungen nicht zu widersprechen, sondern sie zu vervollständigen: Auf beides – nämlich den 7. Oktober wie auch die Notwendigkeit, die Juden:Jüdinnen Europas nicht mit Benjamin Netanjahu, der vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht wird, zu verwechseln – hatte ich klar hingewiesen. Das gleiche galt für Erwiderungen aus anderen Ländern, etwa aus Portugal, wo in der Tageszeitung Publicó der Intellektuelle Ruy Filho ausgehend von meinem Brief über die Notwendigkeit und die Gefahren des „Genozid“-Begriffs reflektierte – und die moralischen Probleme bei der Leugnung genau dieses Begriffs.
Nun erreicht mich also eure „Absage“, und obwohl ich nicht alle Unterzeichner:innen persönlich kenne, respektiere ich die künstlerische und intellektuelle Arbeit von euch allen. Der Kampf gegen Antisemitismus und den Wiederaufstieg der extremen Rechten ist uns gemeinsam: Gerade musste nach einer Klage von H.C.Strache eines meiner Bücher eingestampft werden, in dem ich in zahlreichen Texten darauf hinweise, wie bedenklich der neue, eben gerade in Österreich verwurzelte Antisemitismus ist. Mit Elfriede Jelinek habe ich vor einiger Zeit einen Offenen Brief geschrieben – zum genau gleichen Thema, ihr findet ihn hier. Und was meine Haltung zum Wiederaufstieg antisemitischer Tendenzen in Europa angeht, habe ich vielleicht am klarsten in meiner Laudatio auf das Jüdische Museum Hohenems vor einem Jahr oder in meiner schon etwas älteren Rede zur Eröffnung der Hannah-Arendt-Tagezum Ausdruck gebracht.
Entsprechend ernst nehme ich eure „Absage“, als Mensch, als Bürger, aber auch als Leiter eines Kulturfestivals. Was ich – um nur einen Namen zu nennen – für das Werk von Elfriede Jelinek empfinde, ist wohl allen klar. Meine Adaption von „Burgtheater“ – die wohl radikalste Abrechnung mit dem Antisemitismus in der Theaterszene, der in der deutschsprachigen Literatur existiert – läuft seit Mai im Wiener Burgtheater, gestern wieder vor ausverkauftem Haus. Und vor drei Wochen habe ich in New York Elfriede Jelineks „Endsieg“ inszeniert, in dem sie das Phänomen Trump in Parallele zu Hitler liest. Ich bin geradezu Elfriede Jelineks „Apostel“, wie ein New Yorker Freund ironisch sagte. Und wenige politische Autoren interessieren mich so sehr, sind mir intellektuell so nah wie Doron Rabinovici, der den Brief ebenfalls unterzeichnet hat.