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Komplexität aushalten

Zur Aufgabe von Kulturinstitutionen in kriegerischen Zeiten

Wie können wir in einem Zeitalter verhärteter Fronten allen Seiten, Meinungen, Erfahrungen Raum geben? Wie schaffen wir es, einander zuzuhören und auch unangenehme Wahrheiten zu diskutieren - gerade bei umstrittenen Themen wie dem Gaza-Krieg? Und was ist die Rolle von Kulturinstitutionen wie den Wiener Festwochen dabei? In Auseinandersetzung mit den zahlreichen Reaktionen, die uns seit der Publikation von Milo Raus Brief an meine Freund:innen erreicht haben - deren prominenteste sicher die „Absage“ eines Dutzends österreichischer Kulturschaffender ist - hat der Intendant der Wiener Festwochen folgenden zweiten Brief geschrieben. „Denn es ist vielleicht unser Auftrag als Kulturschaffende“, so Rau, „kein Lager zu wählen, sondern alle Seiten zu befragen und zu hinterfragen - nicht zuletzt die eigene."


Liebe Unterzeichner:innen der „Absage“,

seit ich vorletzte Woche, noch vor dem aktuellen Friedensschluss einen „Brief an meine Freund:innen“ schrieb, der in 15 Sprachen und Ländern erschienen ist, haben mich viele Antworten aus ganz Europa erreicht. Es war sehr viel Zustimmung dabei, aber auch viel Ablehnung, viel Kritik, viele Nachfragen. Den Leser:innen aus dem nicht-deutschsprachigen Europa war mein Brief, um einen Kritiker zu zitieren: „zu wenig und zu spät“. Das zentrale Statement „Menschlichkeit hat nur eine Seite“ und der Aufruf, an der Seite der israelischen genauso wie der palästinensischen Bevölkerung zu stehen, um den Krieg endlich zu beenden, wurde von vielen Kommentator:innen – etwa in Italien oder Frankreich – als eine Art opportunistischer Verrat an den 60.000 Toten im Gaza-Streifen gelesen.

Im deutschsprachigen Europa war es umgekehrt: Hier wurde – etwa in den Antworten, die die beiden Theatermacher Alexander Karschnia oder Amit Epstein an mich schrieben – mein Hinweis auf den jüngsten UNO-Bericht von Mitte September, der das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza als „Genozid mit Vorsatz“ bezeichnet, als einseitige Parteinahme für Palästina verstanden. Das Schweigen, das ich in den deutschsprachigen Kulturinstitutionen auszumachen wähnte, sahen sie auch, aber eher in Bezug auf den 7. Oktober. Sowohl Amit wie Alexander verwiesen auf die Notwendigkeit, die Ängste jüdischer Menschen in Europa nicht aus den Augen zu verlieren, bei aller Betroffenheit über das Leiden der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen.

Sowohl Alexanders wie Amits Briefe hätte ich sofort unterschrieben, sie schienen mir meinen Überlegungen nicht zu widersprechen, sondern sie zu vervollständigen: Auf beides – nämlich den 7. Oktober wie auch die Notwendigkeit, die Juden:Jüdinnen Europas nicht mit Benjamin Netanjahu, der vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht wird, zu verwechseln – hatte ich klar hingewiesen. Das gleiche galt für Erwiderungen aus anderen Ländern, etwa aus Portugal, wo in der Tageszeitung Publicó der Intellektuelle Ruy Filho ausgehend von meinem Brief über die Notwendigkeit und die Gefahren des „Genozid“-Begriffs reflektierte – und die moralischen Probleme bei der Leugnung genau dieses Begriffs.

Nun erreicht mich also eure „Absage“, und obwohl ich nicht alle Unterzeichner:innen persönlich kenne, respektiere ich die künstlerische und intellektuelle Arbeit von euch allen. Der Kampf gegen Antisemitismus und den Wiederaufstieg der extremen Rechten ist uns gemeinsam: Gerade musste nach einer Klage von H.C.Strache eines meiner Bücher eingestampft werden, in dem ich in zahlreichen Texten darauf hinweise, wie bedenklich der neue, eben gerade in Österreich verwurzelte Antisemitismus ist. Mit Elfriede Jelinek habe ich vor einiger Zeit einen Offenen Brief geschrieben – zum genau gleichen Thema, ihr findet ihn hier. Und was meine Haltung zum Wiederaufstieg antisemitischer Tendenzen in Europa angeht, habe ich vielleicht am klarsten in meiner Laudatio auf das Jüdische Museum Hohenems vor einem Jahr oder in meiner schon etwas älteren Rede zur Eröffnung der Hannah-Arendt-Tagezum Ausdruck gebracht.

Entsprechend ernst nehme ich eure „Absage“, als Mensch, als Bürger, aber auch als Leiter eines Kulturfestivals. Was ich – um nur einen Namen zu nennen – für das Werk von Elfriede Jelinek empfinde, ist wohl allen klar. Meine Adaption von „Burgtheater“ – die wohl radikalste Abrechnung mit dem Antisemitismus in der Theaterszene, der in der deutschsprachigen Literatur existiert – läuft seit Mai im Wiener Burgtheater, gestern wieder vor ausverkauftem Haus. Und vor drei Wochen habe ich in New York Elfriede Jelineks „Endsieg“ inszeniert, in dem sie das Phänomen Trump in Parallele zu Hitler liest. Ich bin geradezu Elfriede Jelineks „Apostel“, wie ein New Yorker Freund ironisch sagte. Und wenige politische Autoren interessieren mich so sehr, sind mir intellektuell so nah wie Doron Rabinovici, der den Brief ebenfalls unterzeichnet hat.

„Man kann nur falsch liegen, weil jede Äußerung einen zwingt, totalitär zu argumentieren.“


Damit will ich sagen: Eure Worte sind für mich etwas, das ich sehr, sehr ernst nehme. Also: In der „Absage“ schreibt ihr, mein Aufruf an meine Freund:innen aus der Kulturszene, dabei zu helfen, die Massaker in Gaza zu beenden, könne Anlass geben zum Hass gegen den „Judenstaat“ (wie ihr Israel nennt) und zur „Hetze“ gegen Juden. Nun werft ihr mir das alles nicht direkt vor, was auch faktisch absurd wäre, denn um es mit den Worten von Stefan Grissemann (PROFIL) zu sagen: die von euch monierte „Einseitigkeit bei Schuldzuweisungen“ sei in meinem Brief „schwer auszumachen“. Er benennt „die Ambivalenzen (und implizite Paradoxie), die darin liegen, einem Mahner gegen die Unmenschlichkeit eines Krieges – also mir – „Hetze“ vorzuwerfen“. Worauf Elfriede Jelinek zitiert wird: „Man kann nur falsch liegen, weil jede Äußerung einen zwingt, totalitär zu argumentieren.“

Ich fürchte, Elfriede Jelinek hat Recht: Mein Brief wurde in jedem der 15 Länder, in denen er erscheinen ist, in anderer Weise als „falsch“ gelesen, als einseitig, als pro-israelisch, pro-palästinensisch, jedenfalls als moralisch und rechthaberisch. Das kann ich nur zur Kenntnis nehmen, denn wer sich öffentlich äußert, muss auch öffentlich Kritik entgegennehmen. Nur: Mir war es um genau das Gegenteil gegangen, nämlich einen Diskursraum zu schaffen, der über keine der Seiten schweigt und allen Traumata Raum gibt. Ich verurteile in meinem Brief (und in einem zeitgleich erschienen Interview) die Verbrechen der Hamas genauso wie die der Regierung Netanjahus. Und mehrfach weise ich explizit darauf hin, was meines Erachtens selbstverständlich sein müsste, es aber wohl nie sein wird: Dass jedes Verbrechen – sei es der Hamas oder der israelischen Streitkräfte – nie, absolut nie ein Grund sein darf, die jüdische oder palästinensische Bevölkerung als Feind zu betrachten, dass die Linie zwischen einem verbrecherischen Regime und der Zivilbevölkerung klar gezogen werden muss. Bitte entschuldigt, dass ich mich noch einmal selbst zitiere: „Man darf jüdische Menschen nicht mit dieser – Netanjahus – Regierung verwechseln.“ In Israel nicht, wo über Jahre Millionen gegen ihn auf der Straße waren, und in Europa nicht. Das gleiche gilt, selbstverständlich, für die Palästinenser:innen und Muslim:innen überhaupt.

Was nun den „Genozid“-Begriff angeht, den ihr in Bezug auf das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza für unzulässig haltet: Hier zitiere ich ausschließlich Quellen der UNO und des Internationalen Strafgerichtshofs. Ich maße mir dazu keine Meinung an, denn ich glaube, ihr habt völlig Recht, mich daran zu erinnern, dass der Genozid-Begriff oft politisch eingesetzt wurde und wird. Aber was soll man davon halten, wenn der israelische Minister Smotrich im Parlament dazu aufruft, „Gaza vollständig zu zerstören“, zwei Millionen Menschen dort „auszuhungern“ und zu „entfernen“? Meint er dann wirklich nur die Hamas? Muss man dann nicht fragen dürfen, ob an dem „Genozid“-Begriff, den Dutzende von Forschungskommissionen nun seit über einem Jahr immer wieder explizit verwenden, nicht etwas dran ist? Verurteilen wir nicht auch die Hamas genau deshalb, weil ihre Ideologie und Handlungen in Bezug auf Israel genauso genozidal sind, ob vor oder nach dem 7. Oktober? Müssen wir nicht auf der Seite aller Opfer stehen, der palästinensischen wie der israelischen? Ist es nicht einfach wahnsinnig kompliziert?

Und darum geht es in meinem Brief: um mein langes, sehr langes Schweigen aufgrund der Kompliziertheit der Lage. Der Grund, warum ich zwei Jahre lang schwieg, anders als Millionen europäischer, israelischer und palästinensischer Bürger:innen, von David Grossman bis Omri Boehm, auf den ich noch kurz zu sprechen kommen werde, war, dass ich mich einfach nicht berufen fühlte, etwas zu sagen. Dass ich mich schlicht davor fürchtete, mich in einen Raum zu begeben, in dem man selbst als Spezialist:in oder als Betroffene:r, zwingend missverstanden wird. Was hätte da ich, ein europäischer Beobachter wie ihr, sagen können? Das war übrigens auch der Grund, warum ich an all den Demonstrationen für das Ende der Massaker in Palästina nicht teilnehmen konnte: weil es auf schreckliche Weise kompliziert ist. Weil unter den Millionen Menschen, die für Frieden und Versöhnung demonstrierten, immer auch einige waren, denen es um die Vernichtung Israels als Staat ging.

„Wir müssen uns hüten vor dem Bedürfnis, Eindeutigkeit zu spüren.“


Worauf ich hinauswill: Die Eindeutigkeit, die Ihr in eurer „Absage“ beschreibt, gibt es in meinen Äußerungen nicht und gibt es auch in der Wirklichkeit nicht. Was mich angeht, so empfinde ich alles als unglaublich kompliziert, als verwickelt und schmerzhaft. Oder wie ich in meiner Laudatio auf das Jüdische Museum Hohenems vor etwas weniger als einem Jahr sagte, mitten im Konflikt, Hanno Loewy zitierend: Wir müssen uns hüten vor unserem „Bedürfnis, Eindeutigkeit zu spüren. Eindeutigkeit in der Schuldfrage. Eindeutigkeit bei der Frage, auf welcher Seite man steht.“ Denn wie ich – sicher etwas naiv – in meinem Brief schrieb: „Menschlichkeit hat nur eine Seite.“

All das – mein Brief, eure Antwort – scheint nun seltsam überholt von der Wirklichkeit, die sich in den letzten beiden Wochen sehr schnell entwickelt hat. Es kam ein Friedensplan zur Umsetzung, heute wurden die Geiseln befreit. Ich hoffe, dass der Friede hält, zugleich ahne ich, dass das illusionär ist, leider. Ich ahne, meine lieben Freund:innen, dass unser Ringen um Verständnis und Frieden, um Gerechtigkeit und gegenseitiges Zuhören gerade erst begonnen hat. Ich weiß auch, dass alles, was ich hier sage und tue – der Aufruf, das Leid der anderen zu verstehen, ohne dafür das eigene verraten zu müssen – ein Privileg des Außenstehenden und Verschonten ist. Und ich weiß, dass ich eigentlich schweigen müsste, es aber nicht mehr kann und will.

Womit wir, denke ich, zur eigentlichen Frage dieses Briefs kommen: Was ist die Aufgabe einer Kulturinstitution in alldem? Oder simpler: Warum steht dieser, mein Brief, warum steht diese Entgegnung auf der Seite der Wiener Festwochen? Wie sehr soll eine öffentliche geförderte Institution versuchen, eben nicht zu schweigen, auch wenn es kompliziert und schmerzhaft ist, keine Seite einzunehmen und sich dadurch in einen politischen, manchmal auch moralischen oder schlicht menschlichen Zwiespalt zu begeben? Wie weit soll eine Kulturinstitution diesen Raum verteidigen, in dem Dinge diskutierbar sind, die im wirklichen Leben unverhandelbar, da zu kompliziert, ja: schlicht zu schmerzhaft sind? Soll eine Kulturinstitution überhaupt den politischen Raum betreten, in dem jede Meinungsäußerung sofort der einen oder anderen Seite zugerechnet wird – ganz gleichgültig, wie sie gedacht war?

Ich erinnere mich, als wir von den Festwochen gleich nach dem 7. Oktober 2023 unsere Unterstützung für all unsere Freund:innen in Israel ausdrückten: Sofort wurde das von zahlreichen Kommentator:innen als Schweigen zum Leiden der Palästinenser:innen interpretiert. Und sicher erinnert ihr euch an die Auseinandersetzungen ein halbes Jahr später, im Mai 2024, als wir den israelischen Philosophen Omri Boehm – ein Kritiker der Netanjahu-Regierung – nach Wien auf den Judenplatz einluden. Seine Rede musste unter Polizeischutz stattfinden. Der von mir sehr geschätzte Ariel Muzicant drohte (ironisch) damit, mit Eiern nach Omri zu werfen. Es geschah, was vielleicht immer passiert, wenn man sich weigert, eine Seite zu wählen: Man setzt sich zwischen alle Stühle. Omri wurde von der einen Seite beschimpft, Antisemit zu sein, Israelhasser. Während die andere Seite der Meinung war, er sei Zionist, da er (wie auch ich) am Existenzrecht Israels keinen Zweifel lässt. Auch wenn er nicht von einem reinen „Judenstaat“ träumt, sondern von einem Israel, in dem Juden:Jüdinnen, Palästinenser:innen, Drus:innen und alle anderen friedlich nebeneinander leben.

Ich muss zugeben, dass mich das – neu in Österrreich – überraschte: Omri Boehm und mit ihm die Vision eines Israel quasi nach Maßgabe von Gotthold Ephraim Lessings Ringparabel auf den Judenplatz einzuladen, wurde als extremistische Provokation wahrgenommen, als Angriff auf Israel. Von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien erreichte mich ein Brief, in dem der Befürchtung Ausdruck gegeben wurde, die Sicherheit der Juden:Jüdinnen in Österreich sei durch Omris Besuch gefährdet. Ich nahm diese Mahnung sehr ernst, aber – und hier komme ich zu meinem Punkt: Diese Provokation, die ihr mir ja nun erneut vorwerft, lohnte sich. Denn als wir, einige Wochen später bei den Wiener Festwochen die „Wiener Prozesse“ aufführten, wo wir über die tatsächlichen Feinde der Demokratie sprachen, nahm auch Herr Muzicant teil.

Lasst mich noch ein letztes Beispiel nennen: Im vergangenen Mai luden wir, mitten im Gaza-Krieg, eine israelische Produktion, nämlich „Richard III“, nach Wien ein. Wir taten das aufgrund der künstlerischen Qualität der Produktion, aber auch als Zeichen: Denn die israelische Zivilgesellschaft braucht keinen Boykott, sondern Unterstützung und Austausch, gerade in Zeiten des Krieges! An die Seite des israelischen „Richard“ stellten wir eine Produktion, die einer eher palästinensischen Perspektive Raum gab, aber mit dem Massaker vom 7. Oktober einsetzt. Und am Wochenende, das zwischen den beiden Produktionen lag, veranstalteten wir eine Debatte über den umstrittenen „Genozid“-Begriff, bei dem Stimmen aus allen politischen Lagern zur Sprache kamen. Palästinenser:innen und Israelis, Kritiker:innen und Unterstützer:innen der Politik Netanjahus, Opfer der Hamas und Menschen, die das Leid in den besetzten Gebieten beschrieben, saßen viele Stunden im gleichen Raum, hörten einander zu und versuchten, einander zu verstehen.

„Ich höre euch. Hört ihr mich auch?“


Auf all diese Projekte – die zweifellos alle Provokationen waren – bin ich als Intendant der Wiener Festwochen sehr stolz, auch wenn sie dazu geführt haben, dass ich hundert-, wenn nicht tausendfach aus allen denkbaren politischen Lagern dafür kritisiert wurde. Denn wie ich es in meinen Brief versuche zu sagen: Es ging mir nie darum, der einen oder anderen Seite „Recht“ zu geben, sondern eben diesen „verletzlichen und nachdenklichen Ort“ zu verteidigen, der für mich das Theater, ein Kulturfestival ist. „Ich höre euch, hört ihr mich?“, fragte Omri Boehm, als sich ihm auf dem Judenplatz junge jüdische Studierende entgegenstellten. Ich werde mich bis zu meinem Tod an diesen Moment erinnern: Wie dieser Mann und seine Frau, deren Familie in Wien von den Nazis ausgelöscht worden war und die am Tag von Omris „Rede an Europa“ das Ehrenbürgerrecht erhalten hatte, ihren Kritiker:innen ruhig Widerstand leisteten. Mit der Macht des Wortes, des Zweifels, der Hoffnung.

"Lass uns in deinen Widerstand den Mut einschließen, deine eigenen Gewissheiten anzuzweifeln.“


Ich glaube, eine Kulturinstitution muss genau solche Momente, solche Debatten möglich machen, auch wenn sie schwierig sind. Ich glaube, dass wir versuchen müssen, einander zu provozieren, andere Perspektiven einzunehmen, den sogenannt „Anderen“ zuzuhören. Deshalb bin ich dankbar, dass ihr geschrieben habt, dass ihr mich darauf hinweist, dass mir dabei etwas aus dem Blick geraten ist, oder etwas poetischer: dass das eine Schweigen zu brechen, das eine Trauma anzusprechen eben immer auch Verrat an einem anderen Schweigen, einem anderen Trauma ist. Ich hoffe deshalb, dass ihr diese Entgegnung nicht als Rechthaberei – von der ich leider nicht frei bin – sondern als Versuch wertet, aus einer Reihe von Briefen einen Dialog zu machen. So wie es in Amits Entgegnung an mich heißt: „Wenn das Theater, wie du sagst, ein Ort der Verletzlichkeit ist, dann lass uns dort beginnen. Lass uns in deinen Widerstand den Mut einschließen, deine eigenen Gewissheiten anzuzweifeln.“

Liebe Unterzeichner:innen der „Absage“, aber auch lieber Alex und lieber Amit, ich glaube, wir alle wissen, dass wir bei dieser Debatte auf der gleichen Seite stehen: auf der Seite der Vielfalt und des Friedens, der Seite des Zweifels und eben doch der Notwendigkeit, Dinge, über die wir nicht schweigen können und sollten, anzusprechen. Es ist deshalb wichtig, einander genau zu lesen, uns genau zuzuhören, damit es nicht zu neuen Missverständnissen kommt. Wie ich in einer schnellen Antwort auf eure „Absage“ in einem Interview sagte: „Wenn Milo Rau das wirklich so geschrieben und gesagt hätte, wie hier unterstellt wird, dann würde ich diesen Brief sofort selbst unterschreiben.“ Im ersten Moment war ich schlicht völlig überrascht und dachte: Aber haben sie meinen Brief überhaupt gelesen? Warum zitieren sie nicht daraus, warum werfen sie mir Dinge und Gedanken vor, die ich weder jemals gehabt habe noch jemals haben werde? Warum so unkonkret? Ich bin oben auf all diese Unschärfen eingegangen, in den verlinkten Texten kann man alles nachlesen, aber erst mit der Zeit wurde mir klar, dass es nicht darum ging, was ich wirklich gesagt oder geschrieben hatte. Ja, es brauchte Zeit, bis ich verstand, dass es nicht um mich ging – oder um euch, sondern um einen Raum, in dem Wut und das gegenseitige Überschreien allzu oft das Zuhören ersetzt. Einen Raum, in dem man, wie Elfriede Jelinek nach der Veröffentlichung eurer „Absage“ sagte, „immer falsch liegt“. Und dass es deshalb vielleicht unser Auftrag als Kulturschaffende ist, eben kein Lager zu wählen, sondern alle Seiten zu befragen und zu hinterfragen – nicht zuletzt die eigene. Und dafür bin ich euch allen dankbar: zurückgefragt zu haben, zurückgeschrieben zu haben, auch wenn ich mich zutiefst missverstanden fühlte.

Womit ich zum Ende komme: Ich glaube, wir arbeiten alle am gleichen. Es ist eine sehr widersprüchliche, leider völlig chaotische Arbeit an einer Art Wahrheit, die aus vielen Teilen und Perspektiven besteht, und bei der sich Freund:innen deshalb gegen den eigenen Willen als Feind:innen wiederfinden. Aber vielleicht ist das notwendig, um dann wieder, hoffe ich, Freund:innen zu werden, mit einem besseren Verständnis füreinander, mit einer größeren Toleranz für das Leid und die Erfahrungen der anderen. Ich bin überzeugt, dass dieser Austausch von Briefen, so schmerzhaft er sein mag, genau dazu beitragen wird, dass es keinen anderen Weg gibt als diesen. Aber machen wir uns nichts vor, wenn wir öffentlich mit Worten ringen: Feindschaft ist ein Geschäftsmodell, und den wahren Feind:innen der Demokratie und des Friedens kann nichts Besseres geschehen, als wenn sich ihre Verteidiger:innen in Grabenkämpfe verwickeln. Natürlich gilt das nicht nur für Österreich, nicht nur für unsere kleine, letztlich belanglose Kulturwelt – sondern für die Welt insgesamt. Der Frieden, der aktuell für Gaza ausgehandelt wird, ist vielleicht nur die Pause in einem Krieg, der – was auch immer wir uns wünschen – spätestens seit dem 7. Oktober totale Züge angenommen hat. Ich misstraue dem Veranstalter dieses Friedens, Donald Trump, ich sehe in ihm einen narzisstischen Machtmenschen, so wie Elfriede Jelinek ihn in „Endsieg“ beschreibt. Und was die Terroristen der Hamas angeht: Ich glaube keine Sekunde daran, dass sie auf ihre Macht verzichten werden. Wie der ehemalige Elitesoldat Netanjahu leben sie von der Eskalation, dem Krieg. Sie kennen nichts anderes, denn dieser Konflikt dauert an, seit über 80 Jahren.

Noch einmal: Unsere Debatte wurde schlagartig von der Wirklichkeit überholt, und ich bin froh darüber. Wir wünschen uns alle, davon bin ich überzeugt, dass endlich Frieden herrscht in Israel und Palästina. Die feiernden Menschen in Gaza und Israel rühren mich zu Tränen, stündlich telefoniere ich mit meinen Freund:innen, die vor Ort leben, sei es in Israel oder in Gaza. Ich schätze diese Debatte, die hier gegen alle Wahrscheinlichkeit stattfindet – die Briefe von Alex, von Amit, von euch: Denn die Rationalität der Macht, das Gesetz der Feindschaft und der gegenseitigen Beschuldigung will uns zwingen, eine Seite zu wählen. Es mag naiv sein, aber ich glaube zutiefst daran, dass all unsere offenen Briefe, die Streiks und Demonstrationen in Israel und hier in Europa, die Millionen Menschen, die auf die Straße gegangen sind, für welche „Seite“ auch immer, zum jetzigen Friedensschluss beigetragen haben. Die Debatte, die öffentliche Demonstration unserer Hoffnungen, die Kritik der Mächtigen nach Maßgabe der Gesetze, die wir uns selbst gegeben haben, sei es national oder international: Das ist die höchste Form der Macht, die wir als Zivilgesellschaft haben. Nehmen wir sie wahr. Bitte. Auch wenn wir uns dabei irren und in Streit geraten mögen. Denn der nächste Krieg wird kommen, wohl schneller, als wir uns vorstellen können. Lasst uns gewappnet sein. Lasst uns alle Missverständnisse, ob gewollt oder ungewollt, ausräumen.

Liebe Verfasser:innen der „Absage“, lieber Alexander, lieber Amit: Ich wünsche mir, dass wir uns treffen, so wie wir uns ja schon oft getroffen haben. Dass wir einander gegenübersitzen, in die Augen schauen und einander zuhören. Denn ich habe den Eindruck, dass ich gerade erst damit anfange, euch zuzuhören.

In Freundschaft und Respekt – und mit herzlichem Dank für eure Geduld,
Milo Rau

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