Day 36

Simone Keller: Über die Musik von Julius Eastman und Julia Perry

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Simone Keller ist eine Schweizer Pianistin und Mitglied des Kukuruz Quartetts für wohl­präparierte Klaviere. 2018 veröffentlichte das Quartett eine hochgelobte Einspielung von Julius Eastmans Klaviermusik, dessen Komposition Gay Guerilla wichtiger Bestandteil von Boris Nikitins 24 Bilder pro Sekunde ist. In ihrem Text erzählt Simone Keller von dem tragischen Schicksal des Afroamerikanischen Komponisten, dessen Musik erst posthum, in den letzten Jahren Aufmerksamkeit von einer breiteren Öffentlichkeit erfahren hat. Mit Julia Perry verweist Simone Keller auf eine weitere Komponistin, deren Opern und große Orchesterwerke längst zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind.

Die Verwundbarkeit von vier Klavieren

Der afro-amerikanische Komponist Julius Eastman starb am 28. Mai vor genau 30 Jahren als 49-Jähriger in Folge harten Drogenkonsums in einem Krankenhaus in Buffalo an einem Kreislaufstillstand. Er lebte zuvor bereits einige Jahre gezwungenermaßen in einem Obdachlosenlager im Tompkins Square Park in New York und seine glanzvollen Auftritte – beispielsweise als Gesangs-Solist in der gefeierten Aufführung der Eight Songs for a Mad King von Peter Maxwell Davies unter der Leitung von Pierre Boulez – waren längst vergessen. Eastmans kühne Kompositionen, die ihn rückblickend zu einem Pionier der Minimal Music machen, interessierten zu seinen Lebzeiten kaum jemanden und wären uns heute wohl gar nicht bekannt, wenn nicht seine Kommilitonin Mary Jane Leach sich sorgfältig um die Manuskripte gekümmert hätte, die von der Polizei beschlagnahmt wurden, als er aus seiner Wohnung gewiesen wurde.

Julius Eastman war einer der wenigen Komponisten, der original für vier Klaviere geschrieben hat – eine ungewöhnliche Besetzung. Wir sind mit dem Kukuruz Quartett eines der wenigen Ensembles in genau dieser Besetzung und eines der wenigen Ensembles, das die Musik von Julius Eastman seit Jahren regelmäßig spielt und versucht, sie lebendig zu halten, sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen und sie versucht weiterzugeben in Workshops mit Sekundarschüler*innen, jugendlichen Straftätern in einem Gefängnis und aktuell mit einer Gruppe von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden.

Die Musik von Julius Eastman durfte in den letzten Jahren ein kleines Revival erfahren und wird in Insider-Kreisen fast schon gehypt – dennoch ist diese vielschichtige und kühne Musik noch immer untervertreten im Musikleben, insbesondere in den klassischen Konzertsälen. Wir durften mit dem Kukuruz Quartett 2017 auf der Documenta 14 im Megaron in Athen auf vier großen, brillianten Steinway-Flügeln ein Eastman-Rezital spielen. Diese Instrumente bringen die sich auftürmenden Tonrepetitionen in Eastmans Musik natürlich wunderbar zur Geltung, dennoch haben wir als Quartett immer wieder auch nach einer anderen Klanglichkeit gesucht und versuchen, die raue Wildheit und von Drogen-Exzessen geprägte Grenzüberschreitung ernst zu nehmen und nicht zum „Easy Listening“ zu degradieren. Eastman selber hat sich immer wieder abwertend über gewisse Minimal Music-Kompositionen von Kollegen geäußert, die für ihn nach billiger Meditationsmusik klangen. Wir spielen deshalb diese „Art brut“-Kompositionen eines visionären Eklektikers auf vier alten, heruntergewirtschafteten Klavieren, die bereits so manche Präparation haben aushalten müssen und mit ihren geschundenen Resonanzkörpern genügend Widerstand bieten, um diese Musik mit ihrer Repetitions-Wut und den sich auftürmenden Klangballungen nicht zu verharmlosen und in ihrer ganzen schmerzhaften Schönheit zu zeigen.

Diese vier alten, ausgedienten Klaviere hätten wir jetzt im Juni zu den Wiener Festwochen mitgebracht. Wir hätten sie trotz ihrer Sperrigkeit und ihren unzähligen Unzulänglichkeiten, kaputten Tasten, Hämmern und Stimmwirbeln, Kratzer und abgebrochenen Beinen in einen Lastwagen gepackt und die 750 Kilometer nach Wien gefahren, um dort in der Inszenierung 24 Bilder pro Sekunde von Boris Nikitin, in der es um Verwundbarkeit und Vergänglichkeit geht, mit aller Wucht und Intensität das himmelstürmende Stück Gay Guerrilla von Julius Eastman auf ihnen zu spielen. Unsere vier alten Klaviere waren in den letzten Jahren mit uns in Bars, Banken, Bierbrauereien, Brockenhäusern, Spitälern, Gefängnissen und Kuhställen und haben sich überall tapfer der Wucht und der schlichten physischen Gewalt, die ein wesentlicher Bestandteil von Eastmans Musik ist, gestellt. Die Klaviere sind zwar verwundet, aber tragen stolz diese große Musik in ihren Eingeweiden und können mit ihren lädierten Klangfarben und ihrem brüchigen Timbre etwas erzählen, was ein Konzertflügel in dieser Art und Weise nicht kann. Dennoch haben wir uns vor zwei Jahren für eine Studioaufnahme für vier schöne Steinway-D-Flügel entschieden, um nicht Gefahr zu laufen, die Magie des Live-Erlebnisses unter der Lupe der konservierenden Aufnahme zu entzaubern. In diesem Zusammenhang wurde uns die große Ehre zuteil, dass der Komponist, Posaunist und Wissenschaftler George E. Lewis, der Julius Eastman persönlich gekannt hat für unsere CD bei Intakt Records die Liner Notes verfasste, in denen er schreibt: „Mit dieser Aufnahme macht das Kukuruz Quartett Eastmans Abenteuergeist sinnlich hörbar und zeigt exemplarisch, wie zeitgenössische Klassische Musik in einer neuen, kreolisierten Form eine multikulturell und multiethnisch nutzbare Vergangenheit und eine vorstellbare Zukunft, die es ermöglicht, durch die Beschäftigung mit neuer Musik unser gemeinsames Menschsein zu bekräftigen, umfassen kann.”

Im Weiteren beschreibt George Lewis, wie es dazu kam, dass ein Komponist von Julius Eastmans Format kaum im Bewusstsein der heutigen Musikwelt ist und verweist auch auf eine andere Komponistin, die in Vergessenheit geraten ist: „Trotzdem verschwand Eastmans Werk nach seinem vorzeitigen Ableben einfach innerhalb weniger Jahre. Die Situation erinnert an eine afro-amerikanische Komponistin einer früheren Generation, an Julia Perry (1924 – 1979), die zu dem Zeitpunkt starb, als Eastmans Œuvre bekannter zu werden begann. Perry besuchte die Juilliard School of Music, studierte bei Nadia Boulanger und Luigi Dallapiccola, erhielt zwei Guggenheim-Stipendien und gewann für ihre Kompositionen Preise in den USA und in Europa. Gleichwohl hörte man ein Jahrzehnt nach ihrem Tod über viele Jahre von ihrem Werk nichts mehr, eine Situation, an der sich nichts geändert hat.“

Julia Perry hat mehrere Opern und große Orchesterwerke komponiert, die heute so gut wie niemand mehr kennt. Sie war in einer „triple marginalized position“ als Afro-Amerikanerin, als Frau und nach mehreren Hirnschlägen als Person mit körperlichen Beeinträchtigungen. Ich habe auf einem unserer vier alten Klaviere ein kleines Prelude von Julia Perry aufgenommen und wünsche mir, dass ich damit ein bisschen neugierig auf diese außergewöhnliche Komponistin machen kann und darüber hinaus auf all die vielen weiteren zu Unrecht vergessenen Künstler*innen, die aus mannigfaltigen Gründen nicht in unserem Bewusstsein sind und um deren Wahrnehmung und Wertschätzung es sich zu kämpfen lohnt.

Simone Keller

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